: Drahtseilakt eines Reformers in Chicago
■ Seit vier Jahren hat Chicago mit 40 Prozent afroamerikanischer Bevölkerung einen schwarzen Bürgermeister / Bei den morgigen Vorwahlen der Demokratischen Partei wird Harold Washington jedoch erbittert vom weißen Parteiestablishment bekämpft / Er kann auch auf ein Fünftel der weißen Stimmen rechnen
Aus Chicago Martin Kilian
Samstag nacht im „Kingston Mines Blues Club“ im Norden Chicagos. Draußen bläst ein eisiger Wind über die Stadt, drinnen entledigt Otis Rush, Bluesman superieur, sich seines schweren Ledermantels. Die roten Scheinwerfer spiegeln sich auf seiner Gibson– Gitarre, schneiden durch den rauchverpesteten Raum, wo die Bluesfreaks außer sich geraten, als Otis „Sweet Home Chicago“ anstimmt. „Sweet Home Chicago“: Für die Einwohner allemal, und manchmal scheint es das einzige zu sein, worauf sich die sieben Millionen einigen können. Aber Chicago ist weiß und schwarz und braun, ist polnisch und afroamerikanisch, irisch und italienisch, chinesisch und griechisch. Chicago ist Al Capone und Fank Lloyd Wright, Nelson Algren und Jesse Jackson. In der Innenstadt, wo Spaziergänger des Nachts durch ein glitzerndes Märchenland driften, grüßen Plastiken von Picasso und Marc Chagall. Zehn Autominuten südlich glaubt niemand an Märchen, sind die abgefackelten Ruinen inmitten ausgepowerter schwarzer Slums die einzigen Plastiken und bleibt der durchlöcherte und gebrochene Asphalt der Straßen das einzige Mosaik. Keine amerikanische Großstadt hält die Rassen und Klassen so auseinander wie Chicago, doch keine ist von solchem Leben erfüllt wie „Chicago, die große Mutter“. Wem es nach Harmonie ist, soll nach San Francisco gehen, wer Ablenkung sucht und fliehen will, nach New York. Chicago sei eine Stadt der „harten Köpfe“, schrieb Norman Mailer. New York handelt mit Aktien und Moden, Chicago mit Schweinebäuchen und Rohstoffen. Die Krümel für Schwarz–Chicago Politik ist im „Sweet home Chicago“ schon immer etwas für Profis gewesen, für Bosse, die ihre Deals in qualmigen Hinterzimmern ausmauschelten. Politicos mit harten Gesichtern und legendenumwobenen Bäuchen, Männer wie Big Bill Thompson, der in den zwanziger Jahren 300 Pfund ordinäre Kraft ins Rathaus wuchtete. Chicago, so freute sich einst Stadtrat Paddy Bauler, „ain't ready for reform“. Nein, für Reform hatten die meisten seiner weißen Bewohner noch nie viel übrig. So fanden sie auch nichts dabei, daß die Parteimaschine des legendären Bürgermeisters Richard Daley in den sechziger Jahren jede politische Diskussion einzementierte. Ohne die Maschine lief nichts, kein Job bei der städtischen Müllabfuhr, kein neuer Gehsteig vor dem Haus - nichts. Daley und seine irischen Unterlinge regierten die Stadt wie ein Duodezfürstentum. Schwarz–Chicago schob man die Krümel zu. Jetzt sitzt im Rathaus ein schwarzer Bürgermeister, ein Reformist, dessen Wahl vor vier Jahren von einer Mehrheit der Weißen mit schierem Horror verfolgt wurde. Daß die Skyscrapers am Ende seiner Amtszeit noch stünden, war keinesfalls ausgemacht, und ob militante Afroamerikaner die weißen Nachbarschaften heimsuchen würden, wurde debattiert. Nichts von alledem. Vier Jahre ist Harold Washington Chicagos erster schwarzer Bürgermeister gewesen, wurde es nach einem erbitterten Wahlkampf voller Rassenvorurteile und Untergangsszenarios, und nun stellt er sich zur Wiederwahl. Vier Zehntel der Stadtbevölkerung sind schwarz, ein Zehntel sind Latinos, fünf Zehntel sind weiß - ein delikates Gemisch, und unverdaulich für einen schwarzen Bürgermeisterkandidaten, sofern die Weißen als Block wählen. Vor vier Jahren stritten sich gleich drei weiße Kandidaten, weshalb Harold Washington mit 90 Prozent der schwarzen Stimmen und den Stimmen weniger Weißer und Latinos den Sieg einfuhr. Wie Österreich–Ungarns Kaiser muß Washington sich gefühlt haben, wenn immer er aus der Höhe seines Amtszimmers auf „Sweet Home“ hinunterblickte. Seine schwarze Klientel im Süden und Westen der Stadt, die weißen „Ethnics“ im Südwesten und Nordwesten, die Latinos zwischendrin und entlang Lake Michigan, in den teuersten Wohngegenden die Oberklasse und die Yuppies. Gegen die eigene Partei Was anders als eine Politik des Ausgleichs hätte Harold betreiben können? Drei Jahre lang hat ihm der Stadtrat die Gefolgschaft versagt, immer mußte Washington damit rechnen, daß sich seine weißen Widersacher beim nächsten Wahltermin auf einen einzigen Gegenkandidaten einigten. Parteien? Nur eine Partei, die Demokratische Partei, regiert Chicago. Harold Washington ist ein Demokrat, seine Widersacher sind es ebenfalls. Ein bösartiger Haufen ist der Kreisverband der Partei, geführt von Edward „Fast Eddie“ Vrdolyak. Vier Jahre lang hat sich „Fast Eddie“ gegen seinen Parteigenossen, den schwarzen Bürgermeister, gestemmt, und rechtzeitig vor dem Wahltermin gab er die Parole aus: „Jedermann im gesamten Universum gegen Harold Washington“. Drahtzieherin der Intrige ist Jane Byrne, nach vier stürmischen Amtsjahren als Bürgermeisterin 1983 von Harold Washington besiegt. Jetzt ist „Calamity Jane“ wieder da, sorgfältig retuschiert mit stromlinienförmigem Haarschnitt, schnell und angriffslustig. Jane Byrne, so klagt der Journalist und Chicago–Kenner David Moberg, habe die Stadt während ihrer Amtszeit „an den Höchstbietenden verschachert“. Schwamm drüber: Jane Byrne ist lilienweiß und ehrgeizig, weshalb sie in der parteiinternen Vorwahl für das Amt des Bürgermeisterkandidaten am morgigen Dienstag den ersten Angriff führen darf. Geht es schief, weil Harold die Vorwahl gewinnt, wird es am Hauptwahltag, dem 12. April, einen anderen weißen Demokraten geben. Er wird die Partei kurzfristig verlassen und seinen eigenen Laden aufmachen. „Fast Eddie“ hat zu diesem Zweck die „Solidarity Party“, ein anderer Kandidat die „Chicago First“–Partei gegründet. Messer in alle Rücken So ist es in Chicago, und bitter bemerkt Jesse Jackson, der Doyen des schwarzen Chicago, Harold Washington habe von allen groß städtischen amerikanischen Bürgermeistern die höchsten Hürden zu überwinden. War die Partei zu Zeiten des eisernen Richard Daley ein kompakter Machtapparat, ist sie nun in einem erbarmungswürdigen Zustand, eine Partei nur noch dem Namen nach. Ginge es lediglich um die Konstellation weiß–schwarz, so könnte ihr noch geholfen werden. Doch wie bei der Wahl 1983, als sich „Calamity Jane“, „Fast Eddie“ und Richard Daley Junior (auf Daddys Erbe erpicht) gegenseitig und mit Genuß lange Messer in die Rücken stießen, so wandeln die Bleichgesichter auch 1987 wieder auf dem innerparteilichen Kriegspfad. Da der gegenwärtige Bürgermeister in jeder Wahl fast 100 Prozent der afroamerikanischen Stimmen einfahren wird, braucht Jane Byrne eben 90 Prozent des weißen Votums. Leider mögen die Daley– Fans die Dame nicht, und „Fast Eddies“ Gemeinde im Zehnten Bezirk hätte am allerliebsten ihren eigenen Mann im Rathaus. Gegen Harold Washington aber setzt schon wieder Angst vor der Apokalypse ein: Gewänne Washington auch diese Wahl, so sei die Stadt mit Sicherheit am Ende, grämt sich Robert, Barmann in einer Keipe der Innenstadt. Dann kommt er zur Sache: Den „Niggers“ könne niemand helfen, andersherum aber ruiniere der „Nigger“ im Rathaus nun auch die weißen Viertel. Weniger Polizei. Mehr Kriminalität. Die Dollars würden eimerweise in die schwarzen Nachbarschaften getragen, derweil das weiße Chicago bald auf ungeteerten Straßen zur Arbeit fahren müsse - eine eindrückliche Tirade, voll vorbei an der Wirklichkeit, doch mit solcher Überzeugung vorgetragen, daß nur eine Lösung bleibt: Den „Niggers“ solle ein Ticket zurück nach Afrika bezahlt werden. Ein Tiegel ungeschmolzenen Mißtrauens Wo die Volksseele so kocht, brodeln auch die Politicos. Jane Byrne müsse man sich wie einer Fliegenschar erwehren, immerzu mit der Fliegenpatsche hinter ihr her sein, wütet der Bürgermeister. Und drunten in Südchicago erregt ein schwarzer Richter mit der Forderung Aufsehen, jeden Schwarzen zu hängen, so er nicht Harold Washington wähle. „Sweet Home Chicago“, ein Tiegel voll ungeschmolzenen Mißtrauens, dabei doch „auf den Prärien des Mittleren Westens, die uns den Blick in alle Richtungen erlauben, ohne Barrieren und Hindernisse für Ideen und Aspirationen“. So sah Adlai Stevenson, der liberale demokratische Präsidentschaftskandidat des Jahres 1952, Chicago. Er schielte natürlich, sah, weil er reinweiß dachte, vorbei am schwarzen Chicago. Daran vorbeischauen zu können: welch schöner Traum für viele Weiße auch heute noch. Allein, es geht nicht mehr, denn die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, schwarzer Nationalismus und das Einsehen, es könne die schwarze Unterklasse nicht auf ewige Zeiten ohne Schaden für die Gesamtgesellschaft am Boden gehalten werden, erlauben den hindernisfreien Blick über die Prärien nicht mehr. Also sitzen die Unverbesserlichen denn hinter ihrem Bier und lamentieren über die Ansprüche der Andershäutigen. In Bridgeport etwa, der Hochburg der Daley–Familie, wo Richard Daley vor dem Papst und Irland vor dem Himmel rangierte. Eine Arbeitersiedlung, ihre Bars kleinen Festungen gleich, mit einem winzigen Fenster darin. Keinen Kilometer weit ist Bridgeport von den schwarzen Slums entfernt. Tragik amerikanischer Geschichte offenbart sich in diesem Gegensatz zwischen schwarzer Unterklasse und weißer Arbeiterschaft. Die Angst des weißen Underdogs vor schwarzen Rivalen am Boden der Konkurrenzgesellschaft: Hier manifestiert sie sich. Er mag ein Arbeiter sein, aber es kann ihm eingeredet werden, daß er zumindest weiß ist und als Weißer seine Haut zu Markte tragen darf. Drüben, auf der anderen Seite der Michigan Avenue, würde so mancher Schwarze recht gerne seine Haut irgendwo zu Markte tragen. Aber Arbeitsplätze sind rar, und fast die Hälfte der schwarzen Teenager ist ohne Job. Zu viele Probleme für einen Bürgermeister Mittendrin in den Slums arbeitet Lu Palmer, die graue Eminenz des schwarzen Chicago, seit er vor sechs Jahren erstmals öffentlich mit der Idee eines schwarzen Bürgermeisters spielte und Harold Washingtons Kandidatur mit Hilfe eines Netzwerkes schwarzer Basisgruppen nach vorne puschte. Wie an jedem Samstag, so veranstaltet Lu auch heute ein Seminar über politische Bildung. Etwa fünfzig Menschen sitzen in dem Raum, lernen, was Politik ist, wie Chicago regiert wird, warum die kommenden Wahlen wichtig sind und was sie als Wahlbeobachter tun sollen. Das Beobachten ist wichtig, da die Geschichte des Wahlbetrugs in Chicago so alt ist wie die Stadt. Wie bei der letzten Wahl, so muß die schwarze Wählerschaft mobilisiert werden, die apathischer ist als vor vier Jahren. Noch immer, so sagt Palmer, sei der Enthusiasmus für Harold Washington beträchtlich, um so erstaunlicher, als der Bürgermeister eher nur eine Symbolfigur ist. Denn abgeliefert hat er nicht, was so viele in den Ghettos von ihm erwarteten. Ihre Armut zu tilgen ist einem Bürgermeister freilich nicht gegeben. Die Straßen wurden neu asphaltiert, die Dienstleistungen der Stadt haben sich verbessert, Polizeibrutalität ist zurückgegangen, und wer mit dem Bürgermeister reden will, der kann es tun. Besser geworden unter dem schwarzen Bürgermeister ist das Leben an Chicagos Südseite gewiß, ein neues Leben aber, wie es von manchen Afroamerikanern erhofft wurde, hat Harold Washington ihnen nicht beschert. Wie sollte er auch ? Zu groß sind die Probleme der Ghettos, zu sehr fehlt es an der Hilfe des gesamten Amerikas, als daß ein Bürgermeister sie lösen könnte. Lu Palmer mag es so nicht sehen. Enttäuscht ist er vom Bürgermeister, enttäuscht über die vielen weißen Berater, mit denen Washington sich umgeben hat, enttäuscht darüber, daß der Einfluß schwarzer Nationalisten auf das Rathaus klein geblieben ist. Nachdenklich sinnt er über die Grenzen Harold Washingtons, der doch nur ein Reformer ist und nicht mehr. Freunde sind Palmer und der Bürgermeister schon lange nicht mehr. Daß Lu dem Bürgermeister trotzdem hilft, seinen Einfluß für ihn geltend macht, liegt an der traurigen Einsicht, andernfalls müsse man vierzig oder fünfzig Jahre auf einen neuen schwarzen Bürgermeister warten. Nicht verstehen kann er den Drahtseilakt des Reformers in einer Stadt wie Chicago, nicht verstehen kann er Harold Washingtons Anliegen, ein Bürgermeister für alle in dieser zerrissenen Stadt sein zu wollen. Anders zu sein als Richard Daley, der die Schwarzen ignorierte, die Juden nicht mochte und auf Vorhaltungen, das Rathaus in einen irischen Pub verwandelt zu haben, mit einem Fluch reagierte. Die weiße Phalanx durchbrochen Dagegen kann sich sehen lassen, was Harold Washington in vier Jahren zustande gebracht hat. Nicht nur, daß er unter Umgehung der ihm feindlich gesonnenen Bürokratie Stadtteil– und Basisgruppen großzügig bedacht, sich immer wieder auf sie gestützt und so ein noch nie erlebtes Maß an direkter Demokratie in die Stadt gebracht hat. Nicht nur, daß es der Stadt heute besser geht als vor vier Jahren und das Rathaus, vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahrhundert, frei einsehbar, die Korruption des Apparats zurückgegangen ist. Viel wichtiger ist, daß Harold Washington die weiße Phalanx durchbrochen und so manchen verbohrten Kopf geheilt hat. Ein Fünftel der weißen Stimmen wird er den Meinungsumfragen zufolge erhalten - Symbol für einen bescheidenen, doch überaus wichtigen Umschwung. Seine zweite Amtszeit, so sagte er, werde eine Fortsetzung der ersten sein. Um Lebensqualität gehe es ihm, um mehr Selbstbestimmung, um eine größere Rolle der Menschen beim Regieren der Stadt. „Man wirft uns vor, wir seien blauäugig und idealistisch. Well, deswegen sind wir hier. Und deswegen werden wir hier bleiben.“ Man hofft es.
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