Tschernobyl zwischen Angst und Heldenmut

■ Dokumentation des staatlichen sowjetischen Fernsehens über den ersten Supergau des Atomzeitalters / Dramatische Bilder und Selbstkritik gepaart mit Propaganda–Tönen

Die Blumen blühen, das Korn wächst, ein Frühling voller Schönheit. Das Kamera–Auge fängt die Stimmung kurz vor dem Wonnemonat des Jahres ein, dringt durch die Pracht der Obstbäume und streichelt die zarten Blüten. Der Zuschauer genießt die stille Natur, aus der ihn erst die Stimme des Kommentators reißt. Er spricht voller Pathos von einer unsichtbaren Not, von einer Gefahr „ohne Geschmack und ohne Geruch, die überall lauert, in den Blättern des Laubes oder in der Milch“. Eine junge Frau erinnert sich: „Wir hörten Musik. Plötzlich hörte es sich an wie ein Donner. Ich fragte, was ist das? Sie sagten mir, ach Du bist das noch nicht gewöhnt. Das ist das Kraftwerk“. „Niemand hatte es erwartet und niemand konnte glauben, daß so etwas möglich ist.“ Von oben betrachtet, erscheint dieses „so etwas“, der erste Supergau des Atomzeitalters, als gigantischer Trümmerhaufen, als technische Wüste, die das riesige Zerstörungspotential dieser „Havarie“ erahnen läßt. „Die Warnung“ heißt die vom staatlichen sowjetischen Fernsehen gedrehte und am Freitag auch in der DDR ausgestrahlte Dokumentation über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Der Film ist die erste umfangreiche, die breite Bevölkerung erreichende Information, die das Ausmaß des vielleicht schwersten Unfalls der Industriegeschichte deutlich werden läßt. Der Film sprengt gleich mehrere Tabus und wird deshalb zurecht auch als Ausdruck des sogenannten neuen Kurses der Offenheit in der Sowjetunion gesehen. Atomenergie und Technikgläubigkeit bleiben aber dennoch grundsätzlich unangeta stet. Dagegen wird die nach dem Unfall entstandene Hilflosigkeit, werden Angst und Schrecken in nicht gekannter Offenheit zum Thema gemacht. „Ich habe Menschen mit versteinerten Gesichtern gesehen (...) Keiner wußte wie lange das dauern wird (...) Man versuchte die Ausmaße der Havarie zu verbergen. Die Ausmaße waren aber auch nicht richtig bekannt. Es gab Verwirrung, es gab Hilflosigkeit.“ Und keiner wußte, ob man es überhaupt jemals schaffen würde, den durchgebrannten Reaktor wieder unter Kontrolle zu kriegen. In einigen Teilen kommt die Dokumentation tatsächlich wie ein Anti–AKW–Film daher. Eine Hubschrauberaufnahme zeigt die Reaktorruine. Kurz darauf schaukelt eine Mutter ihr Kind und weckt Beschützerinstinkte und Zukunftsängste. Eine Bäuerin, pausbäckig, im grauen Tuch ist nach sie jemals wieder nach Tschernobyl zurückkehren? „Nein niemals!“ Die Kamera schwenkt durch verlassene Wohnungen und sucht nach den Spuren der geflüchteten Bewohner. Die beeindruckendste Szene des Films ist mit einem laufenden Sekundenzeiger unterlegt: Nur wenige Tage nach dem Unfall werden Hilfskräfte direkt am Kraftwerk abgesetzt. Sie steigen aus, laufen bis unmittelbar an den Krater heran, sammeln herumliegende Trümmer auf und werfen sie in den strahlenden Schlund. Nach 70 Sekunden, in denen diese „Freiwilligen“ lebensge fährlichen Dosen an Radioaktivität ausgesetzt waren, hasten sie zum Hubschrauber zurück. Die nächste Crew wartet schon. Aufräumungsarbeiten im ausgehenden Atomzeitalter... Auch bei der Einsargung der Reaktorruine waren die Arbeiter und Ingenieure ungeschützt der Strahlung ausgesetzt. Die Bilder von den schaufelnden Hilfskräften bei ihrem Kamikaze–Job stehen im krassen Widerspruch zu dem Jubel–Kommentar, der die riesige Metallkonstruktion als „Gegenstand des Stolzes“ und „einmaliges Werk der Wissenschaft“ in den Himmel lobt. Und spätestens hier wird der Film zur Propaganda, werden Opferbereitschaft, Mut und Selbstlosigkeit der tapferen Soldaten, Feuerwehrleute, Physiker, Techniker, der Chauffeure und Küchenfrauen, aller Helfer und Einsatzkräfte heroisch verklärt. Ohne Schlaf, den Gefahren trotzend, haben sie in Stunden höchster Not die Stellung gehalten: Balsam für die russische Seele. „Pflichtgefühl und Opferbereitschaft ist das Wichtigste für diese Menschen.“ „Als ich von Tschernobyl hörte, war mir klar, ich muß da hinfahren, ich muß meine Arbeitskraft anbieten“, sagt einer dem Fernsehteam. Wer redet da noch von Zwangsverpflichtungen? Solche Propaganda–Töne halten sich hartnäckig, sie sind aber nicht durchgängig, sondern werden immer wieder von selbstkritischen Einschätzungen abgelöst. Von Plünderungen in den evakuierten Häusern wird berichtet, von der unzureichenden und verspäteten Unterrichtung der Bevölkerung und vor allem und immer wieder von den „schweren Fehlern“ des Reaktor–Personals von Tschernobyl, den eigentlich Schuldigen. Die massive Kritik an den verantwortlichen Technikern wird aber gleichzeitig zur Lossprechung der Technik. Wo die Menschen versagt haben, ist die Technik unschuldig. „Wir alle müssen nachdenken über den Sinn dieser Warnung“, sagt der Sprecher über die Katastrophe in der Ukraine. Aber nicht vor dem Atom wird gewarnt, sondern vor dem „Leichtsinn der Menschen“. Beschworen wird eine neue technologische Internationale. Die Menschen der Erde müssen „die Sicherheit für alle modernen Technologien erhöhen“, dann wird alles gut. Der Tschernobyl–Film des sowjetischen Fernsehens ist eine beeindruckende Dokumentation. Wer über Zukunft reden will, muß diese Bilder ebenso gesehen haben wie die Archivaufnahmen von Hiroshima und Nagasaki oder die Fotos der Giftgasopfer von Bhopal. In meiner ersten Einschätzung des Tschernobyl– Films, die auf Film–Ausschnitten, Agenturmaterial und Schilderungen von Zuschauern beruhte, ist „Die Warnung“ sicherlich zu euphorisch bewertet worden. Aber der Film ist immer dann, wenn er den Unfall und seine Konsequenzen wirklich dokumentiert, eine kraftvolle Anklage gegen die atomare Hybris, er verschweigt andererseits wichtige Informationen über Strahlenbelastungen und Risiken, und er macht aus dem Katastrophen–Handling ein Heldenstück. Daß die Zukunft der Atomenergie dennoch in Frage gestellt wird, ist nicht die Intention des Films, sondern unvermeidbare Konsequenz seiner historischen Bilder. Manfred Kriener