: Die kleinen Leute und der Super–GAU
■ Am Dienstag abend wurde nach etlichen Verzögerungen auf den Filmfestspielen in Berlin der sowjetische Film „Die Glocke von Tschernobyl“ gezeigt / Zeugnisse und Bilder eines historischen Ereignisses und der Tragödie der Beteiligten
Aus Berlin Manfred Kriener
Die Störchin brütet unruhig auf ihren Eiern und blickt aufgeregt und mißtrauisch von ihrem Wagenrad herunter. Unter ihr arbeitet der „Entseuchungstrupp“ mit simplem Wasserschlauch, Mundschutz und Geigerzähler. Ein Haus wird abgespritzt. Die Kamera zoomt an die Wände heran und zeigt, wie die schäumende Brühe langsam hinuntertrieft und im Boden versickert. Schließlich bekommt auch die Störchin ihren Wasserstrahl ab und fliegt erschreckt davon. Der Entseuchungstrupp zieht weiter. Mit ruhigen und einfachen Szenen hat der sowjetische Regisseur Rolan Sergejenko in seinem Film „Die Glocke von Tschernobyl“ die bemühte Hilflosigkeit der Bevölkerung in ihrem aussichtslosen Kampf gegen die Strahlengefahr eingefangen. Mit dem Wasserschlauch gegen den Super–GAU. Es tut weh mitan– zusehen, mit wieviel Gutgläubigkeit, Ernsthaftigkeit, mit welchem Einsatz und mit welcher Ahnungslosigkeit die ukrainischen Bauern die Katastrophe im „saubersten Kraftwerk der Sowjetunion“ zu meistern versuchen. Interviews mit der Landbevölkerung, mit den kopftuchtragenden alten Frauen, den kopfschüttelnden fassungslosen Männern prägen den Film. Er will die Katastrophe nicht nachzeichnen, sondern „Zeugnisse von Beteiligten der Tragödie“ dokumentieren. Das gelingt Sergejenko mit seinen schlichten Bildern. Man möchte sie alle umarmen, die da mit einer uns fremden, ungebrochenen Heimatliebe von ihrer Sehnsucht nach der Rückkehr berichten, von ihren Tränen und Hoffnungen: „Wir wünschen uns so sehr, daß wir wieder in unsere Dörfer können. Dreimal haben sie unsere Häuser schon gespült. Es ist so ein Unheil, daß wir jeden Tag weinen. (...) Wenn wir nur hinkönnten. Ich würde mit Händen und Füßen umgraben.“ Gleichzeitig möchte man diese naiven „kleinen Leute“ mit ihrem Null–Wissen über die Gefahren der Radioaktivität schütteln und wachrütteln. Viele glauben einfach nicht daran, daß eine Rückkehr in ihre Dörfer gefährlich sein könnte. „Ja, der Staub ist überall, aber sonst ist doch alles wie immer“, die Natur blüht und wächst, „ich würde sofort zurückgehen, aber es ist uns nicht erlaubt“. Die Ahnungslosigkeit war lange Zeit auch amtlich: Am Tag nach der Explosion lebte die Stadt wie an jedem anderen Tag, „sogar eine Hochzeit wurde gefeiert“. Neben dem dichten Bild, das der Film von der Situation der Betroffenen vermittelt, zeigt er - ähnlich wie die Dokumentation des sowjetischen Fernsehens (taz v. 26.2.) - historische Aufnahmen von den Aufräumungsarbeiten rund um die Reaktorruine. Allerdings werden diese Arbeiten nicht zu Heldentaten verklärt. Sie erhalten bei Sergejenko eher eine gruselige orwellsche Dimension. Die Kamera nähert sich im Panzerspähwagen der Reaktorruine. Das Auge blickt aus dem düsteren Gefährt auf den Trümmerhaufen. Von Geisterhand gesteuerte Roboterfahrzeuge verrichten Aufräumungsarbeiten in den Todeszonen. Lange Greifarme bauen am Sarkophag für die Ruine von Block IV. Wo die Roboter nicht hinkommen, müssen die Hilfskräfte ran. Mit Bleiumhang und Mundschutz rennen sie in die Strahlenwüste. Ihre hektischen Bewegungen verraten die Angst. Zwangsarbeiter gibt es nicht, dafür aber ein junges Paar, das seine Flitterwochen beim Arbeitseinsatz in Tschernobyl verbringt. Im Krankenhaus werden die Opfer befragt. Alle sind optimistisch. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Sie wollen noch Kinder zeugen, und irgendwie wird es „schon gut gehen“. Das Festklammern an Hoffnung und Lebenswille, dazu ein Schuß Fatalismus oder Gottvertrauen: „Es kommt alles ins Lot. Wir sind ja auch von Moskau nach Berlin gelaufen und haben dort gesiegt ...“, erinnert sich frohgemut ein alter Mann. Die Glocke von Tschernobyl ist kein Anti–AKW–Film. „Zur Entwicklung der Atomenergie gibt es keine Alternative. Anderes zu denken hieße, für die Steinzeit zu schwärmen“, läßt der Regisseur einen verstrahlten und auf Frührente gesetzten Kraftwerksarbeiter sagen. Tschernobyl sei eine Warnung, wird immer wieder betont - aber nicht vor der Atomenergie, sondern vor dem nuklearen Inferno, vor Atomwaffen, Krieg und Aufrüstung. Die Kraft der Bilder wird vom eigentlichen Gegenstand umgelenkt auf die Rüstung. Vielleicht ein Zugeständnis, um den Film in der Sowjetunion tolerierbar zu machen. Aber die Reaktorkatastrophe als Mahnerin für den Frieden wird so oft betont, daß es nach regierungsamtlicher Propaganda riecht. Entsprechend enttäuscht zeigte sich das Berlinale–Publikum, das diesen Film, der erst im letzten Moment in Berlin ankam, mit besonderer Spannung erwartet hatte. Zur Enttäuschung besteht dennoch kein Grund. Abseits devoter Propagandatöne ist auch dieser Film, genau wie die Fernsehdokumentation des sowjetischen TV, eine eindringliche Sammlung von Zeugnissen und Bildern eines Ereignisses, das „schlimmer ist als der Krieg. Den Feind kannst Du zurückschlagen, die Radioaktivität nicht. Dieser Feind ist weder tot noch lebendig.“
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