Der Mut zur Wahrheit nimmt in der UdSSR zu

■ Mit bisher ungeahnter Offenheit und Kritik nehmen die Medien der UdSSR die Chance der „Perestroika“ wahr / Fernsehen, Film und Presse konfrontieren die Konsumenten täglich mit neuen Wahrheiten / Alte Parteimitglieder: Haben wir bisher alles falsch gemacht?

Aus Moskau Alice Meyer

„Es ist schwer, nach den alten Methoden zu arbeiten“, sagte vorige Woche der Moderator einer Fernsehsendung, in der neue Filme und ihre Regisseure vorgestellt wurden. Die Perestroika (Umstrukturierung) hat offensichtlich alle Bereiche der Gesellschaft erfaßt. Doch das Neue ist noch schwer zu fassen: In dem in Szenen eingespielten Film „Die Stadt“, der die städtebauliche Veränderung von Tomsk in West–Sibirien schildert, wo ein großes Chemie–Kombinat errichtet werden sollte, bleiben Fragen des Wohnraums, der Kindergärten, Schulen, kultureller Einrichtungen - wie bei großen Investitionsprojekten in der UdSSR üblich - von zweitrangiger Bedeutung. In das wunderschöne alte Stadtbild mit den bunten Holzhäusern, die zum Teil sechshundert Jahre alt und Kunstwerke der Architektur sind, dringen die Bulldozer vor, um Platz zu schaffen für die Monumente der Industrialisierung. Doch der Film belegt auch, daß es ein Umdenken gibt. Mehr als eine Million Rubel hat die Stadt für die Rettung der baulichen Kostbarkeiten zur Verfügung gestellt bekommen. Die Erhaltung eines ganz anderen Reichtums forderte am 11.3.87 Walentin Rasputin in der Prawda. Das einzigartige Biotop des Baikalsees könnte nur durch Verbot des Holzeinschlags in der Uferzone und durch die Schließung der Zellstoff–Kombinate gerettet werden. Selbst der Gosplan–Chef Nikolai Talysin ist der Meinung, heute sei „selbst einem Dummkopf klar, daß am Baikal nie hätte ein Zellstoffwerk gebaut werden dürfen“. Die wissenschaftlich–technische Intelligenz und die Umweltschützer tragen in der Presse Diskussionen um den Dammbau bei Leningrad und die Flußumleitungsprojekte in Sibirien und Zentralasien aus. Dieses Vorhaben mußte das Politbüro im Herbst 1986 aus ökologischen Gründen vorläufig zurückstellen. Hier war die Presse schon fast so etwas wie eine Gegenmacht gegen die Technokraten. Neuerdings sind auch Zahlenangaben über Kindersterblichkeit, Lebenserwartung der Bevölkerung, Drogenmißbrauch und Gewalt–Kriminalität in der Presse zu finden. Zum ersten Mal berichtete eine Journalistin in der Sowjetskaja Rossija vom 12.3.87 über Prostitution in Moskau: über die 70jährige Prostituierte am Kasaner Bahnhof, die mit einer Flasche Wein zufrieden ist, und die hochdotierte Edelnutte in den internationalen Hotels, die oft einen ganzen Stab von „Helfern“ mit entlohnt - zum Beispiel den Arzt, der die venerischen Krankheiten mit gefälschten Gesundheitspapieren kuriert. Der Erwerb „unverdienten Einkommens“ durch diese „Mitarbeiter“ ist im Rahmen der Anti–Korruptionsgesetzgebung strafbar, aber die Prostitution selbst stellt in der Sowjetunion bis heute keinen Straftatbestand dar. Soziale Ursachen und Triebfedern der Prostitution wurden in den Artikeln nicht berührt. Kein Versuch des Verschweigens, sondern Mut zur Wahrheit bewies eine Filmprüfstelle in Moskau, die den 1986 gedrehten Film „Zeichen des Unheils“, nach dem gleichnamigen Buch von Wassil Bykow, zur Aufführung freigab. Für dieses Buch erhielt Bykow im vergangenen Jahr den Leninpreis. Der Regisseur Michail Ptaschuk führte den Film dem Vorsitzenden des belorussischen Kinoverbandes vor und wurde aufgefordert, wesentliche Szenen, welche die Folgen der Zwangskollektivierung in einem kleinen weißrussischen Dorf zei gen, herauszuschneiden. Film und Buch belegen ungerechte Enteignungen und Vertreibungen ärmlicher bäuerlicher Existenzen. Er zeigt das Mitgefühl einiger Dorfbewohner für die Vertriebenen bis hin zum Selbstmord des Leiters der Kollektivierungs– Kommission, der die Enteignun gen nicht mittragen konnte. Dem Regisseur wurde gekündigt wegen der Weigerung, Kürzungen zu akzeptieren, und in der Iswestija vom 15.2.87 konnte ein Künstler und Akademie–Mitglied die Vorfälle herausstellen. Fehler der Vergangenheit zu diskutieren und Öffentlichkeit herzustellen ist auch das Anliegen des Direktors des Museums für moderne Malerei in Jerewan (Prawda vom 11.3.87). Nicht die Bürokratie solle entscheiden, welche Gemälde in die Ausstellungshallen und in die Keller wandern, sondern der Künstler in der Diskussion mit den Kollegen und den Besuchern. Moskau besitzt kein Museum für Moderne Malerei. Viele Arbeiten russischer Künstler konnte der Museumslei ter und Autor erst im Ausland kennenlernen. Eine vierwöchige Ausstellung der Avantgarde der russischen Kunst im Februar 1987 in Moskau zeigt neue Tendenzen. Die Veränderungen sind oft so radikal, daß ehemals bedeutungslose Zeitschriften nach der Einsetzung neuer Chefredakteure eine Fundgrube werden für neue Ansichten von Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern, die bisher überhaupt nicht zu Worte kamen. Menschen, die integer sind, sich nie haben vereinnahmen lassen, können nun publizieren. In der Moskow News konnte sich auch ein Kommunist aussprechen, der seit Mitte der 40er Jahre Parteimitglied ist, der in einem Brief an den Chefredakteur der Nachrichtenagentur Nowosti, Walentin Falin, auf seine Schwierigkeiten mit der Perestroika aufmerksam machte: Sein ganzes Leben habe er im Sinne der Parteiziele gearbeitet und gewirkt, und nun sei dies alles eine Kette von Fehlern. In dem Kommentar des Chefredakteurs wurde aus dem Verfasser des Briefs an Falin ein Gegner der Umstrukturierung. Es fragt sich, ob Falin damit ein neues Feindbild kreiert. Siehe auch Seite 8