: Ein Wunder der Technik
■ Was von Prof. Segals These zu halten ist
Was lange nur Gerücht war, erscheint jetzt bewiesen. Auch sind die Täter endlich bekannt und ebenso der Tatort. Das Unglück ist nicht anonym, sagt Brecht. Es hat einen Namen und eine Adresse. Segals Theorie wird diesem Postulat gerecht. Sie ist das, was man eine „starke These“ nennt: einfach, klar und weitreichend. Sie läßt keine Fragen offen und bietet ein geschlossenes Bild. Sie steht auf der richtigen Seite und ist politisch couragiert. Sie ist auch wissenschaftlich mutig. Denn sie entlarvt nicht nur, so scheint es, die Machenschaften der mächtigsten Militärmacht der Welt, sie legt sich auch an mit der moralisch laschen Majorität gekaufter Wissenschaft. Als engagierter Minoritätsposition, die den ideologiekritischen Durchblick vereint mit kriminologischem Scharfsinn und naturwissenschaftlicher Kenntnis, kann sie der schroffen Ablehnung des akademischen Establishments im Westen ebenso sicher sein wie gerade deshalb der Zustimmung derer, die reinen Herzens sind. Daß einer der Eingeweihten das verschworene Schweigen bricht, macht ihn unter den Wissenden, die weiter schweigen, ebenso verhaßt, wie sie ihm den Beifall derer sichert, die es immer schon ahnten, aber als Laien das Wort nicht selbst ergreifen konnten. Ein Stück Aufklärung also, wie man sie gern hat, volkstümlich und leicht zu fassen, mit einem ordentlichen Schuß Kriminalroman, dessen Autor noch dazu ein richtiger Professor ist. Eine starke These also, man kann auch sagen, ein starkes Stück. Moralisch ist sie allemal plausibel, und a priori hat sie alle Wahrscheinlichkeit für sich. Aber die Plausibilität ist kein Beweis, und das empörte Bewußtsein hat die fatale Neigung, das glauben zu wollen, was, träfe es zu, es mit Recht empörte. So verliert es die kritische Distanz. Die Wahrscheinlichkeit im Allgemeinen sagt zwar nichts über die Wahrheit im Konkreten, und doch wird hier diese aus jener mit moralischer Verve erschlossen. Der Fall lehrt exemplarisch, daß nicht jeder, der Jaccuse sagt, deshalb auch schon ein Zola ist, und wie das Herzklopfen der Entrüstung die Strenge der Kritik untergräbt. Doch worauf sollte die sich stützen, wenn nicht auf Gegenexpertisen des main streams? Die aber gerade stehen unter Verdacht. So zeigt sich hier scheinbar das gleiche Dilemma wie bei den Debatten um die Kernenergie, das aber heute für fast alle Bereiche des science assessment gilt: Nichts steht innerhalb der Wissenschaft unter schärferem Verdikt als das blinde Akzeptieren von Dogmen, aber noch kein Glaubenssystem war je nach außen dogmatischer als heute die Wissenschaft. In seinem immanenten Telos ist der wissenschaftliche Geist radikal demokratisch: Jedes Argument gilt ihm gleich viel, solange es wohlbegründet ist, und die Autorität des Autors setzt sich jedes Mal neu aufs Spiel. Doch kommunizieren kann nur der, der die Weihen hat. Für den Laien ist Wissenschaft kein Prozeß, an dem er teilhaben könnte. Er lernt sie nur über Resultate kennen, die er glauben muß. Wo aber Lehrmeinung gegen Lehrmeinung steht, dort hält er sich notgedrungen doch an Autorität, und es ist an ihm zu entscheiden, wer ihm als solche gilt. Doch sind wir hier in einer besseren Lage. Denn Segal argumentiert nicht nur als Experte, er bringt vor allem kriminologische Argumente vor. Das öffnet seine These der Laienkritik. Tatsächlich braucht man, um sie zu entkräften, auf keinem Gebiet Fachmann zu sein, man muß weder von Molekularbiologie noch von Epidemiologie etwas verstehen, es reicht ein wenig Lebenserfahrung und ein bißchen Logik bei der immanenten Prüfung seines Beweisgangs. Sie ist mit wenigen Schritten erledigt: Kern des an vernebelnden, zur Sache nichts beitragenden Abschweifun gen reichen Gesprächs zwischen dem Schriftsteller Stefan Heym und dem Emeritus der Humboldt–Universität für Allgemeine Biologie, Jakob Segal (bei dem übrigens der 73jährige Heym sich dem 86jährigen Segal gegenüber wie ein unmündiger Schüler benimmt und nicht, wie es sich gehörte, als advocatus diaboli), ist dessen Behauptung, das HIV–Virus (er spricht in etwas überholter Terminologie von HTLV III nach Gallo oder von LAV nach Luc Montagnier) sei in einem gentechnischen Labor der US–amerikanischen Armee unmittelbar nach dessen Einrichtung im Jahre 1977 aus Genomsequenzen des HTLV I und des Maedi Visna Virus künstlich synthetisiert worden. Von allen namhaften Retrovirologen wird jedoch die Möglichkeit einer Kombination des HIV nach dem vorgeschlagenen Mechanismus bestritten, nicht nur, weil die inzwischen bekannten Nukleinsäuresequenzen der Komponenten im Gegensatz zu Segals Annahme mit denen des in seiner Struktur inzwischen ebenfalls aufgeklärten HIV nicht übereinstimmten, sondern auch, weil dieses ein zusätzliches Genelement (“tat“) enthalte, das nur ihm spezifisch sei (Ganz abgesehen davon, daß HTLV I selbst erst 1978 von Gallo entdeckt wurde, ohne daß jemand behauptete, auch Segal nicht, es sei seinerseits ein Kunstprodukt.). HIV sei einzigartig im Hinblick auf Form, Eiweiß– und Genstruktur und mit allen anderen bekannten Viren nur entfernt verwandt - daher auch aus diesen nach dem heutigen Stand des Wissens nicht kombinierbar. Nun kann man sagen, hier stehe Meinung gegen Meinung. Für den Laien kontrollierbar sind sie beide nicht. Da Segal jedoch ein bestimmtes Verfahren gegen die herrschende Lehre als technisch möglich behauptet, läge, nach den fundamentalsten Regeln wissenschaftlicher Diskursivität und Redlichkeit, die positive Beweislast bei ihm: Er oder seine Anhänger müßten durch ein Demonstrationsexperiment zeigen, daß die behauptete Manipulation nach dem vorgeschlagenen Mechanismus überhaupt möglich ist. Genau dies aber bleiben sie bisher schuldig. Selbstverständlich wäre eine solche Demonstration im Jahre 1987 noch kein hinreichender Beweis dafür, daß die Synthese auch schon 1977 hätte gemacht werden können (schon gar nicht dafür, daß sie tatsächlich durchgeführt wurde), wohl aber wäre sie ein notwendiges Element für seine Argumentation. Selbst wenn man konzilianterweise annimmt, daß in x Jahren die Synthese nach dem Segalschen Modell oder einem dazu verwandten gelingen sollte (eine Annahme, die die Zunft mit grundsätzlichen Argumenten als sinnlos verwirft und auf die Segal keinen Anspruch hat, denn er behauptet ja heute einen Beweis zu führen), müßte man, um die These zu retten, zusätzlich unterstellen, daß die amerikanische Militärforschung im Jahre 1977 ohne Vorbereitungszeit, gleichsam aus dem Handgelenk (denn das in Frage stehende P–4–Labor in Fort Detrick war nach Segals eigener Annahme das erste in den USA, wenn nicht in der Welt überhaupt), einen geheim gebliebenen wissenschaftlichen Vorsprung von zehn + x Jahren gegenüber der zivilen Forschung, die ih rerseits seit damals mit in der Geschichte beispielloser Intensität betrieben wurde, gehabt und bisher noch nicht zur Gänze verloren habe. Nimmt man hinzu, daß, gegen ein verbreitetes Vorurteil, die militärische Grundlagenforschung aus wissenschaftssoziologisch einsichtigen Gründen (wie Geheimhaltung, Rekrutierungsprobleme, interne bürokratische Kontrollmechanismen etc.) der zivilen üblicherweise weit unterlegen ist, so liegt die Skurrilität dieser Annahme auf der Hand. Treffen wir sie trotzdem und unterstellen wir, die Synthese sei damals, 1977/78 tatsächlich nach Segals Vorstellungen durchgeführt worden. Das könnte natürlich kein Ein–Mann–Unternehmen gewesen sein, sondern nur die Leistung eines Teams von Biologen, Medizinern, Technikern, Laboranten, Verwaltungs– und Kontrollpersonal. Seither sind zehn Jahre vergangen. Jahre höchster epidemiologischer, kriminologischer und publizistischer Aufmerksamkeit, gerade in den USA. Ist es vorstellbar, daß auch nicht ein einziger der an den Experimenten direkt oder indirekt aktiv Beteiligten seither geplaudert hat - und zwar nur über die Tatsache ihrer Durchführung als solcher -, sei es auch nur aus herostratischer Eitelkeit oder im Suff? Aber nehmen wir, gegen jede Wahrscheinlichkeit, weiter an, die ganze Equipe habe tatsächlich dicht gehalten und die Infektionsexperimente wären nach Segals Szenario durchgeführt worden, und unterstellen wir darüber hinaus zu Segals Gunsten, AIDS sei frühestens erst bei der zweiten Generation der Infizierten medizinisch auffällig geworden. (Diese Zusatzannahme ist für Segal notwendig, denn um die Ätiologie der Krankheit zu klären, mögliche Erregerquellen und allfällige Kofaktoren zu identifizieren, wurden die Lebensgeschichten der ersten AIDS–diagnostizierten Patienten genauestens durchleuchtet.) Ist es denkbar, daß keiner aus der noch undiagnostizierten Kohorte der Erstinfizierten, spätenstens als die Krankheit bei ihm ausgebrochen war, einem Freund, einem Bekannten, einem Verwandten von dem an ihm durchgeführten Experiment erzählt, oder, naheliegender noch, einem Journalisten seine Story verkauft hätte, um zumindest seine Arztrechnungen bezahlen zu können? „Denkbar“ ist es schon, aber extrem unwahrscheinlich. Legt man Segals Indizienkette auseinander, so zeigt sich, daß eine ganze Reihe von je für sich extrem unwahrscheinlichen Annahmen gleichzeitig getroffen werden muß, um ihre einzelnen Glieder zu verbinden. Die Annahmen sind also konjunktiv verknüpft. Daher ergibt erst das Produkt ihrer Erwartungswerte die epistemische Wahrscheinlichkeit der ganzen Räuberpistole - wie man sieht, konvergiert diese in dem Maße, als man das Annahmespektrum auseinanderlegt, salopp gesprochen, gegen Null. (Die sekundären Argumente, die mit den diskutierten Annahmen nicht konjunktiv verknüpft sind, sondern die These als ganzes stützen sollen, wie etwa das von der sozial unausgewogenen Durchseuchung afrikanischer Prostituierter oder das vom angeblich erstmaligen Auftreten der Krankheit in New York, verdienen kaum nähere Betrachtung. Was den ersten Punkt betrifft, so wird jeder, der einigen Umgang mit soziolgischen Studien hat, deren Validität bei einem so prekären Thema nicht allzu hoch veranschlagen und sich erst äußern, wenn entsprechende Replikationsstudien vorliegen, ganz abgesehen davon, daß andere behaupten, Segal hätte die Kategorien verwechselt. Zum zweiten ist zu sagen, daß der Ort der Erstdiagnose mindestens ebensoviel über den Stand der medizinischen Diagnostik in dem betreffenden Land oder der betreffenden Region aussagte wie über deren Durchseuchungsgrad. AIDS (oder GRID, wie man das Syndrom an fangs nannte) ist ja gewissermaßen eine Metakrankheit mit sehr verzögerter und verzweigter manifester Folgesymptomatik - niemand stirbt an AIDS, man stirbt immer an den Folgekrankheiten. Vor Entwicklung eines Antikörpertests, nur über diesen indirekt erschließbar, setzte ihre Diagnose - und erst recht ihre Entdeckung - einen hohen Stand des medizinischen Systems voraus. Insofern ist es kein Zufall, daß die Krankheit erstmals in den USA identifiziert und beschrieben wurde, unabhängig vom Ort ihres tatsächlichen Auftretens.) Zu sagen, die epistemische Wahrscheinlichkeit von Segals These sei praktisch gleich Null, heißt aber nichts anderes als zu sagen, ihr Zutreffen gliche einem Wunder. Dann aber kann man sie nur mehr akzeptieren, wenn man das persönliche Zeugnis ihres Verkünders als über jeden Zweifel erhaben anerkennt; man muß also Segals Botschaft so empfangen, wie sein Interviewer Heym es tut: auf den Knien. Denn, wie schon David Hume im Abschnitt „Über Wunder“ von „An Enquiry concerning Human Understanding“ (1758) schreibt: „Wäre die Falschheit seines Zeugnisses wunderbarer als das von ihm berichtete Ereignis, dann, und nur dann, kann er meinen Glauben und meine Überzeugung beanspruchen.“ (Und nur so nebenbei: Segals Aufweis, seine Gegner hätten auch keine plausible Erklärung für den Ausbruch der Krankheit, bzw. einige ihrer Hypothesen wie z.B. die von den Meerkätzchen, seien inzwischen falsifiziert, mag in der Sache sogar stimmen, doch ist dies kein legitimes Argument zur Stützung seiner eigenen These: Dann muß man das Problem eben offen halten.) AIDS ist nicht nur eine tödliche Krankheit wie andere auch. Als neue und vorläufig medizinisch unbeherrschbare Seuche, die zur Pandemie auszuarten droht, ist sie auch nicht nur ein gesundheitspolitisches Problem ersten Ranges, bei dem noch nicht klar ist, von wo die größere Gefahr droht: von der Seuche selbst oder dem staatlichen Umgang mit ihr. Fast ein Geschenk des Himmels für die Bewahrer christlicher Werte ist sie vor allem eine tödliche Bedrohung für alle freien und emanzipierten Lebensweisen. Daß darauf zuerst mit Unglauben und Verdrängung (wer hat vor 1983, vor der Entdeckung des LAV, tatsächlich an einen Virus geglaubt? Nicht einmal die Epidemiologen. Dieses geheimnisvolle, diffuse Syndrom der Tendenzwende, aus Reagans sauberem Amerika als Krankheit der Schwulen, der Fixer und der Puertoricaner kolportiert, stand doch mit Recht unter extremem Ideologieverdacht), bald darauf aber mit Hysterie und Ordnungswut reagiert wurde, hat seinen Grund in einer tiefen Irritation des modernen Lebensgefühls. Insofern ist AIDS auch ein geschichtsphilosophischer Skandal, denn es stellt die Grundüberzeugung der Moderne in Frage. Die Überzeugung nämlich, die allen Geschichtsphilosophien seit Hegel zumindest implizit gemeinsam ist: daß Natur durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik immer besser beherrscht werde und daß heute - wie manche schon voreilig versicherten - ein Stand der Naturbeherrschung erreicht sei, der den Wert ihrer weiteren Forcierung zumindest fragwürdig erscheinen lasse. Nicht mehr, wie über Jahrtausende, die Kargheit und Feindlichkeit der Natur sei das Problem in der modernen Gesellschaft, sondern diese selbst in ihrer Struktur und quasi– naturhaften Dynamik. Alle Fortschrittskritik als Selbstkritik der Moderne bezog letztlich daraus ihr Motiv. Gesellschaft als zweite Natur sei heute das Problem, nicht mehr die erste, schrieb Alfred Schmidt noch 1972. Tatsächlich waren alle großen Katastrophen spätestens dieses Jahrhunderts gesellschaftlich–politischen Charakters. Neben den Kriegen, Bürgerkriegen und Wirtschaftskrisen unserer Zeit nahmen sich alle „Naturkatastrophen“ wie kleinere Unfälle aus. In den Nachrichten brachte man sie unter Vermischtes. Natürlich blieben Krankheit und Tod schlechthin unbesiegbar, aber es gelang immerhin, sie immer mehr zu individualisieren, und sie aus dem sozialen Leben zu verdrängen - wie etwa den Krebs, die moderne Krankheit schlechthin, der die Individuen nur statistisch trifft, sie aber nicht sozial verbindet. Das ist bei AIDS nicht möglich: Denn als tödliche Krankheit ist es ein Stück unbeherrschter Natur, als galante Seuche aber ein soziales Phänomen. Daher konnte man sagen, daß AIDS die erste postmoderne Krankheit sei. Als solche wurde sie auch sofort zum mächtigen Einsatz im Spiel der Ideologien. Zwar spricht die aufgeklärte Theologie nicht mehr wörtlich von Gottes Geißel, wohl aber metaphorisiert sie sie zum Aufstand der Natur gegen das sittenlose Treiben der Menschen. Ganze Bibliotheken der Aufklärung werden auf einmal zur Makulatur erklärt, und die Spiritualisten berufen sich plötzlich auf das Widerstandsmoment der Natur. Am anderen Ende der Skala wollen Materialisten die Naturhaftigkeit des Phänomens nicht wahrhaben, und verleugnen seinen kontingenten Ursprung: Auch das Virus selbst soll noch gemacht worden sein; so entpuppen sie sich als vollendete Idealisten. In beiden Fällen wird der Krankheit ein historischer Sinn imputiert, den sie nicht hat: Dient sie den einen als Menetekel der Sündhaftigkeit und als Mahnung gegen die Hybris der Zivilisation, so den anderen als Beispiel für absolute Machbarkeit. Aber ein bißchen Zucker im Urin, und der Freigeist geht zur Messe, wie höhnisch schon La Bruyere konstatierte. Auch der kalauernde Symbolismus AIDS/SDI (Amerika), vor dem nicht einmal ein Günter Amendt zurückschreckt: daß die Hybris nur das Spiegelbild der Hilflosigkeit sei, ist so irrational wie die beiden Seiten es sind, die Krankheit und das Programm. Der dumme Witz ist allenfalls als Hinweis zu gebrauchen, wie schreiend disproportioniert die Forschung heute ist. Daß dem Leiden und dem Tod kein Sinn abzupressen ist, daß Natur, wenn auch zunehmend beherrschbar, nicht nur Geist in seiner Entäußerung ist, mußte Hegel selbst, der größte Identitätsphilosoph, durch seinen ironischen Tod am eigenen Leib erfahren: Er starb 1831 an der Cholera. Die ist heute aus Europa verschwunden. Nicht durch mehr Glaubensartikel, sondern durch bessere Kanalisation. Auch andere Leiden haben ihren Schrecken verloren, wie z.B. die Syphilis. Doch nicht die Sittsamkeit hat sie gebannt, sondern das Penicillin. Zwar weiß heute niemand, wann ein Durchbruch gegen AIDS gelingt; aber wenn er gelingt, dann in der Medizin, nicht in der Metaphysik. Bis dahin wird man mit der Drohung leben müssen, wie früher schon mit anderen auch, und sterben, wenn einen der Zufall trifft. Man wird sich gewiß darauf einstellen müssen, schon um den Zufall zu minimieren; aber aus Gründen veralteter Technik, nicht einer neuen Moral. Was also die Veränderung im sexuellen Verhalten betrifft, sollte man sie als das begreifen, was sie ist: als eine zwar notwendige, doch lästige Behinderung des Verkehrs, und sonst nichts. Keine neue Harmonie von Sitte und Natur, sondern eine Notmaßnahme, bis die Virologen so weit sind. Denn wenn die Geschichte der Wissenschaft etwas lehrt, dann dies: Die Natur ist weder alles, noch ist sie nichts. Vor allem ist sie kein moralisches Argument. So lange sie dazu mißbraucht werden kann, ist die Moderne tatsächlich - ein unvollendetes Projekt.
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