Mit List und Lust verweigern

■ Frauen bereiten zum Jahrestag von Tschernobyl einen Streik– und Verweigerungstag vor / Unverschämt freche Aktionen und ein verändertes Verständnis davon, was „politisch“ und „unpolitisch“ ist

Von Gunhild Schöller

„Euer Aufruf zu einem Streik– und Verweigerungstag der Frauen ein Jahr nach Tschernobyl - das ist doch einfach lächerlich. Was wollt ihr denn verweigern? Das ist doch peinlich. Da muß man doch ganz anders rangehen: große Streiks, massenhafte Demonstrationen...“. Solche Reaktionen, gerade aus „fortschrittlichen Kreisen“, erlebt Christel Neusüß, Professorin an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft, oft. Sie ist Mitorganisatorin von Aktionen, die in drei Wochen, am 27. April, anläßlich des Jahrestags von Tschernobyl überall in Berlin und in der Bundesrepublik von Frauen organisiert werden. „Mit List und Lust“ wollen die Frauen vorgehen. Jede Fau klärt für sich selbst beziehungsweise mit ihrer Gruppe, wie weit sie an diesem Tag gehen will, was für sie mutig ist. Heldinnen - und besonders Märtyrerinnen - sind nicht gefragt. „Was machen die Frauen, die nicht so einfach streiken können?“, fragt eine, die zu einem der Treffen in Berlin gekommen ist, wo die einzelnen Frauengruppen ihre Aktionen vorbereiten und vernetzen. Sie ist von Beruf Lehrerin und hat auch schon die Antwort parat: „Ich sage meinen Schülerinnen und Schülern an diesem Montag Heute streikt meine Stimme und mache den Unterricht schweigend. Daß einer Lehrerin mal die Stimme wegbleibt - das kann doch leicht passieren.“ Tschernobyl hat den Alltag verändert Mit einem Verweis oder einem Disziplinarverfahren hat die Schulbehörde in einem solchen Fall keine Chance. Aber seltsam ist es doch, daß an diesem Tag so viele Lehrerinnen ganz und gar heiser sind und gleichzeitig auch noch etliche wegen Migräne zu Hause bleiben... Da fragen sich die Schüler/innen, die Kolleg/ inn/en und die Schulbehörde vielleicht, warum. Ob eine Verweigerung eher verdeckt oder offen läuft - das ist bei diesen Frauen kein Gegen stand langatmiger Diskussionen. Wichtig ist allein, daß auf vielfältige Art bemerkbar wird, daß der GAU von Tschernobyl nicht vergessen und verdrängt ist. „Tschernobyl hat mein Leben verändert“, sagt Christine Holzkamp, Professorin an der Techni schen Universität. Deshalb hat sich auch ihre Vorstellung von dem, was „politisch“ ist, verändert. Die alten Trennungen, „außen - innen“, „öffentlich - privat“, hat Tschernobyl ad absurdum geführt. Was weit entfernt in der Ukraine passierte, hatte unmittelbare Folgen für das private Leben zu Hause. Bis heute. „Ein Erkenntnisprozeß, der vor ungefähr zehn Jahren begann, hat sich extrem beschleunigt. Ich lerne, die Ungeheuerlichkeit zu begreifen, daß es heute ums Leben geht. Um mein Leben, das meiner Verwandten, Freunde, meiner Kinder...“ Sie hat Angst, aber sie ist nicht gelähmt. Sie begreift sich nicht nur als Opfer, sondern erkennt: „Wir sind Komplizinnen“, und zitiert Maria Mies: „Die herrschenden Männerbünde in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik haben einen Brückenkopf in jeder und in jedem von uns errichtet. Der zentrale Pfeiler dieses Brückenkopfes ist die Lebenslüge, daß wir beides gleichzeitig haben könnten: das Leben und einen stets steigenden Lebensstandard.“ Persönlich politische Konsequenzen Deshalb ist es nach Ansicht dieser Frauen nicht nur wichtig, politische Forderungen zu stellen (“Ausstieg aus der Atomwirtschaft!“), sondern auch ihr persönliches Verhalten zu überdenken und zu verändern. „Das ist doch der Rückzug ins Private!“, lautet da der typisch linke Vorwurf. Aber er trifft nicht - es geht im Gegenteil gerade darum, den (scheinbar privaten) Alltag zu politisieren, die politische Dimension des individuellen Verhaltens zu erkennen und zu nutzen. „Wir müssen uns gegenseitig Mut machen, im Alltag unbequem und mutig zu sein“, sagt eine. Es geht nicht darum, möglichst „unauffällig“ relativ wenig belastete Nahrungsmittel zu kaufen, sondern darum, auf den Skandal der Verseuchung unserer (Über– )Lebensmittel aufmerksam zu machen. Im Supermarkt, im Kollegenkreis, auf der Kita–Elternversammlung, wo es um die Frage geht, was die lieben Kleinen essen sollen ... Viele Frauen erleben erst jetzt, wie relativ angenehm es ist, sich auf „richtige“ politische Forderungen zurückzuziehen und den Alltag wie gewohnt weiter laufen zu lassen. Und wie anstrengend und herausfordernd, aber auch ermutigend ein Schritt für Schritt verändertes alltägliches Leben sein kann. Vielfältige Aktionen Frech, die im Alltag eingeschliffenen Wahrnehmungen verwirrend sollen auch die Aktionen sein, die Frauen aus Berlin zum Jahrestag planen. Die Gruppe „Frauenfrühstück“, von der die Idee, diesen Tag zu einem „Frauentag“ zu machen, stammt, hat für besagten Zeitraum große Plakatflächen angemietet, die sie Frauengruppen zur freien Verfügung überläßt. Außerdem haben diese Frauen in halbjähriger Arbeit Futura, die Drächin aus Baumwollstoff und Schnur, erschaffen. Futura wird Demonstrationen anführen und auf Wunsch noch weitere Aktivitäten von Frauen beschützen. „Freche Weiber, schrille Töne“ - unter diesem Motto werden Frauen an diesem Tag Krach schlagen. An die alte Tradition der „Katzenmusik“ anknüpfend werden sie mit wenigen Worten, aber mit viel Lärm auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Die Gruppe „Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung“ wollen an diesem Tag in Einkaufszentren gehen, ihre Wagen mit Kinderschokolade und ähnlich hochbelasteten „Genuß“mitteln vollpacken und diese dann mit „Achtung radioaktiv!“ kennzeichnen. Aus der Bundesrepublik kam dazu die Anregung, auf besonders belastete Lebensmittel mit Knattern und Rätschen aufmerksam zu machen. Vor allem Kindern, so wird gemunkelt, soll dieses Spiel im Supermarkt viel Freude bereiten. Andere Frauen wollen mit Transparenten und Milchtüten bepackt zu einem stadtbekannten Ort ziehen und die Milch dort gemeinsam ... nein, nicht trinken. Auch die KWU (Kraftwerksunion) hat zugesagt, an diesem Tag mit einem Informationsstand in der City vertreten zu sein. Freundlicherweise wird er ausschließlich mit Informantinnen besetzt sein, die sich schon viele Verdienste in der Aufklärung über die Folgen der Atomtechnologie erworben haben. Aufkleber mit dem Schriftzug „Für verstrahlte Lebensmittel übernehmen wir keine Haftung“ sollen bei einer Druckerei schon in Auftrag gegeben worden sein. Angeblich sollen sie auf Schaufensterscheiben ganz besonders gut haften. Wem das alles zu träge erscheint - eine Aktion verspricht besonderen Lustgewinn: ein lesbisches Kiss–In im Kaufhaus. Auf die Abteilung - ob Feinschmecker oder Hobby/Freizeit - haben sich die Damen bislang noch nicht festgelegt. Fest steht nur: Diese Gruppe ist offen für alle. Für Frauen, die schon lange Frauen küssen, und für diejenigen, die nur mal üben wollen. Kontakt für alle Frauen, die an einer dieser Aktionen mitmachen wollen: Gruppe „Frauenfrühstück“, Adresse s. Kasten