: Kalkuttas Metro: Paradies oder Pleite?
■ Die neue U–Bahn der indischen Zehn–Millionenmetropole wird allseits als Symbol der Moderne bestaunt, aber die Bürger Kalkuttas ziehen die billigeren traditionellen Verkehrsmittel vor / Ungelöste Sicherheitsprobleme / Während des Baus erwogen frustrierte Experten Umwandlung der Schächte in eine Teichlandschaft
Aus Kalkutta Uwe Hoering
Starr vor Furcht und Faszination steht eine Alte am Fuß der Rolltreppe. Ihre Enkelin hat sie untergehakt und ermuntert sie vergebens, den Schritt auf das metallisch glänzende Ungetüm zu wagen. Die Umstehenden beobachten das Spiel halb amüsiert, halb verständnisvoll, der Polizist mit dem Gewehr über der Schulter grinst breit. Schließlich siegt die Neugier. Beherzt tritt die Alte, gestützt von dem Mädchen, auf die erste Stufe und entschwindet langsam nach oben. Wenige Sekunden später schwebt sie wieder herab, ein triumphierendes Lachen auf dem Gesicht. Die Technik ist erobert! Solche Szenen sind seit einem Jahr in der neuen U–Bahn von Kalkutta zu beobachten. Nicht Neu Delhi, die verwöhnte Hauptstadt, auch nicht das reiche, weltstädtische Bombay, sondern die verrufene Stadt am Hoogly–Fluß, bislang nur gut für Negativ–Schlagzeilen und Endzeit–Visionen, kam als erste Stadt des Subkontinents zu diesem Symbol einer modernen Metropole. Kalkuttas Metro eröffnet dem indischen Normalverbraucher den Blick ins High–Tech–Paradies. Rolltreppen, unterirdische Züge mit Türen, die sich wie von Geisterhand öffnen und schließen. Eintrittspreis eine Rupie (15 Pfennig), Fahrzeit 15 Minuten, geöffnet werktags von acht bis 20 Uhr, am Wochenende geschlossen. Man taucht hinunter in lange, blitzsaubere Gänge, läßt Lärm, Staub, Gedränge und die brütende Hitze hinter sich. Die Stille ist geradezu gespenstisch, unsichtbare riesige Ventilatoren sorgen für frische und kühle Luft im unterirdischen Paradies. Der polierte Steinfußboden und die gefließten Wände und Säulen verbreiten den diskreten Charme eines Badezimmers. Es fehlen die roten Spritzer vom Saft der Betelblätter, sonst zielsicher in jede Ecke gespuckt, ebenso der Geruch von Urin und Abfall, der den Fußgänger oberirdisch ständig begleitet. Damit das auch so bleibt, sind Polizisten am Eingang jeder Station postiert. Die Gewehre griffbereit neben sich an die Wand gelehnt, mit quäkendem Sprechfunkgerät, hindern sie Bettler, Straßenhändler und Obdachlose daran, von der Metro Besitz zu ergreifen. Oberirdisches Verkehrschaos Während unterirdisch die rot– gelben Züge „sicher, sauber und schnell“ - so die Werbung der Metro–Gesellschaft - dahinrasen, tobt oberirdisch der gewohnte Kampf. Doppeldeckerbusse, klapprige Taxis, die Wagen der Straßenbahn quälen sich im dichten Verkehrsgewühl voran. Dazwischen ein Pferdewagen, Tagelöhner, die einen Handkarren, vollgeladen mit Ballen von Altpapier, durch das Gewühl lotsen, Rikshaw–Kulis, die zwischen der stinkenden und lärmenden Blechlawine eine Lücke suchen, stets in Gefahr, zerquetscht zu werden. Da ist kein Platz für Fußgänger, die die Straße überqueren wollen. Die Trillerpfeife des Polizisten geht im Lärm der Motoren und Hupen unter. Die Luft ist zum Zerschneiden dick. Neue Straßen sind schon lange nicht mehr gebaut worden. Eine einzige Brücke aus den dreißiger Jahren verbindet die Stadtteile östlich und westlich des Hoogly– Flusses, an dem Kalkutta liegt. Die hölzerne Straßenbahn datiert noch aus kolonialen Zeiten, die Busse sind zwar jünger, aber abwrackreif. 2.000 Busse und 300 Straßenbahnen befördern täglich sechs bis acht Millionen Fahrgäste und sind damit völlig überlastet. Vom Traum zum Alptraum Das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, eine Lösung der chronischen Verkehrsprobleme und ein Symbol metropolitaner Bedeutung - beides verspricht die neue U–Bahn. Kein Wunder, daß jeder, den man auf die Metro anspricht, glänzende Augen bekommt. Eine Metro–Fahrt gehört zum Besuchsprogramm unabdingbar dazu. „Ein erster Hoffnungsschimmer seit Jahrzehnten“, jubelte eine Zeitung, „eine Hoffnung fürs Überleben.“ Für diese Hoffnung wurden bisher 3,9 Mrd. Rupies (etwa 750 Millionen DM) vergraben, mindestens 4,3 Mrd. Rupies werden in den nächsten Jahren noch folgen. Skeptiker, die die bisherige Kostenexplosion des bei Baubeginn Anfang der siebziger Jahre auf 1,4 Mrd. Rupies veranschlagten Projekts hochrechnen, kommen gar auf einen Gesamtpreis von 35 Mrd. Rupies. Als Gegenwert bekam die Stadt zunächst einmal ein Bau–Chaos erster Güte. Die Innenstadt verwandelte sich in eine riesige Baustelle. Kalkuttas Bürger mußten auf dem Weg in ihre Büros oder Geschäfte über Berge von Erde, Kies und Stahlträger steigen, der Verkehr wurde auf noch engerem Raum zusammengedrängt oder in ebenfalls überfüllte Seitenstraßen umgeleitet. Ungesicherte Baugruben wurden Passanten zum Verhängnis, Straßenhändler und Essensstände mußten dem Fortschritt weichen. Die baufälligen alten Häuser bekamen noch mehr Risse, während des Monsunregens soffen die offenen Schächte ab. Die Buddelei glich einer abenteuerlichen Entdeckungsreise in das unterirdische Versorgungslabyrinth der Stadt, ein Wurzelwerk von Kabelschächten, Wasserleitungen, Abwasserkanälen und Telefonkabeln, gewuchert in Jahrzehnten städtischen Wildwuchses. Die Reise ins Innere produzierte immer neue Überraschungen: tote Telefone, unterbrochene Wasserversorgung, Abwässer, die auf die Straße statt in die Kanalisation flossen, ... Fortan konnten alle chronischen Probleme der Stadt, Stromunterbrechungen, das tägliche Verkehrschaos, Staub und Dreck dem U–Bahn–Bau angelastet werden. Der Bau, so schien es, versetzte der siechen Stadt den Todesstoß. Zeitweise glaubte niemand an eine Fertigstellung. Erst fehlte es an Geld, dann an Stahl, an Kies, schließlich an Transportraum, ... Frustrierte Politiker forderten schon, alle Gruben, die bis dahin ausgehoben waren, einfach voll Wasser laufen zu lassen und in Teiche umzuwandeln. Doch nach zwölfjähriger Bauzeit wurde im April 1986 der Betrieb zwischen Esplanade im Stadtzentrum und Tollygunj im Süden der Stadt aufgenommen, eine Strecke von gut sieben Kilometern mit sieben unterirdischen Stationen. „Die Metro ist unser größter Erfolg seit der Unabhängigkeit“, triumphierte R.K. Sinha, Chef der „Metro Railways Authority“. Unter der Erde gähnende Leere Doch trotz des greifbaren Fortschritts haben Kalkutta und seine Bewohner das Fortschritts–Monument unter ihren Füßen noch nicht „angenommen“. Die Stationen wirken verlassen, am Fahrkartenschalter drängelt keine Menschentraube, dieses untrügliche Zeichen für die Überlastung der anderen Transportmittel. Der Kontrolleur am Zugang zum Bahnsteig döst vor sich hin. Auch der Zug, der aus der dunklen Röhre heranrattert, ist halbleer, Sicherheit, Sauberkeit, Schnelligkeit und Polizeischutz haben offensichtlich noch nicht viele zum Umsteigen motivieren können, höchstens einige höhere Angestellte und Geschäftsleute, für die es wichtig ist, ihre Büros zu erreichen, ohne ihre weißen Kragen durchgeschwitzt zu haben. Die Züge fahren mangels automatischem Sicherheitssystem, das erst noch importiert und installiert werden muß, nur alle 15 Minuten, selbst in Stoßzeiten sind sie nicht voll. So befördert die Metro täglich nur 50.000 Fahrgäste, - für die verstopfte Innenstadt keine Entlastung. Statt zu Bürozeiten die Massen ins Geschäftsviertel von Chittaranjan Avenue, Chowringhee Road und BDD–Bagh zu schaufeln, ist sie ein futuristischer Fremdkörper geblieben. Ein Grund dafür ist der Fahrpreis. Obwohl Kalkuttas Metro mit einem Preis von umgerechnet kaum 15 Pfennig die billigste Metro der Welt sein dürfte, ist sie doppelt so teuer wie der Bus. Oder lieben die Bewohner Kalkuttas ihre Stadt so sehr, daß sie die Höllenfahrt in einem Bus, bei der man sich den Hintern blau stößt, die frisch gewaschene Kurta durchschwitzt und zerknautscht und die Lungen verpestet, nicht eintauschen möchten gegen eine Höllenfahrt durch eine dunkle Tunnelröhre, bei der man das Treiben der Stadt, ihr Leben verpaßt? Auch das Vertrauen in „das Monster“, so ein skeptischer Journalist, dürfte fehlen. Noch sind die zahlreichen Zwischenfälle und Wassereinbrüche, die den Bau begleiteten, in Erinnerung, die Berichte über Pfusch am Bau. Kurz vor der Eröffnung der ersten Teil strecke fanden die Wassermassen des Monsuns irgendwie den Weg in das unterirdische Labyrinth und verwandelten mehrere Züge in U– Boote. Man hört von Rissen im Beton, man sieht braune Streifen an den Wänden vom einsickernden Wasser - das Vertrauen in den Fortschritt fällt schwer. Nur die Bodenspekulanten wittern Zukunft, die Grundstückpreise in der Umgebung der Stationen sind gewaltig gestiegen. Ende der achtziger Jahre, nach Fertigstellung der restlichen Strecke von neun Kilometern zwischen Esplanade und dem Bahnhof Dum Dum im Norden, soll die Metro täglich 1,7 Millionen Fahrgäste befördern. Bis dahin wird allerdings die Gesamtzahl der täglichen Fahrgäste Kalkuttas auf zehn Millionen angewachsen sein - vier Millionen mehr als Metro, Busse und Straßenbahnen dann zusammen verkraften können. Offensichtlich baut man mit der Metro dem Wachstum der städtischen Bevölkerung hinterher. Der Stadtplaner M.N.Buch, bekanntgeworden durch seinen vergeblichen Kampf gegen den stadtnahen Standort der Union–Carbide–Fabrik in Bhopal, ist denn auch überzeugt, daß „Kalkuttas Metro eine der teuersten Pleiten in der städtischen Geschichte“ ist. U–Bahn als Vergnügungspark Der Vorwurf geht an die Adresse der Congress–Partei, vehementeste Befürworterin des Projekts. Ausgestattet mit Macht und Geld der Zentralregierung in Neu Delhi hat sie das Projekt durchgepowert. Weder die Stadtverwaltung von Kalkutta noch die kommunistische Landesregierung Westbengalens wollten die Metro. Sie hätten das Geld lieber für eine zweite Brücke über den Hoogly oder für Entwicklungsmaßnahmen auf dem Land, die den Bevölkerungsdruck auf die Stadt mindern könnten, gehabt. Die entwurzelten Landarbeiter und Kleinstbauern, die in der Stadt nach Überlebensmöglichkeiten suchen müssen, kommen zumeist nicht aus Westbengalen, sondern aus Congress–regierten Bundesstaaten wie Bihar, Uttar Pradesh und Orissa, - vertrieben durch Verschuldung, Enteignung, Entrechtung. Kritiker mutmaßen, daß die Metro vor allem als bombastische Wahl–Lokomotive konzipiert war, mit der Kalkuttas Mittelschichten bewiesen werden sollte, daß „Congress“ Fortschritt und Modernität bedeutet, Kommunismus dagegen nur Chaos und Stillstand bringt. Die Metro wird das Problem der Landflucht nicht lösen, dafür jedoch neue Probleme schaffen, etwa bei der Stromversorgung. Im Vollbetrieb wird sie einmal 65 MW benötigen, die Hälfte davon für Lüftung und Kühlung. Selbst ohne Metro kann die Stadt ihren Strombedarf von täglich gut 800 MW nicht decken, Stromabschaltungen gehören zum Alltag. In der Tat beschleichen einen Zweifel, ob die Metro je einem echten indischen Ansturm gewachsen sein wird. Man stelle sich vor: alle zwei Minuten ein Zug, 100.000 Fahrgäste stündlich, dreimal soviele wie die Londoner „tube“ verkraftet. Erst werden sie sich an den Schaltern stauen - Automaten gibt es noch nicht -, dann vor dem Kontrolleur, der die Fahrkarten knipst, anschließend werden sie die Automatik–Türen blockieren und schließlich müssen sie sich durch nadelöhrenge Drehkreuze an den Ausgängen vorbeiquetschen. Möglicherweise wäre es das Beste und vor allem das Sicherste, die Metro bliebe, was sie bislang ist: ein metro–politanes Symbol, ein High–Tech–Schaustück, ein unterirdischer Vergnügungspark für geduldige Besucher wie die Alte auf der Rolltreppe.
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