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Fünf Tage in deutscher Geschichte

■ Am Ende von Chaim Herzogs Reise in die Bundesrepublik ein Tag in Berlin mit einem Besuch der Gedenkstätte für den deutschen Widerstand / Vor der Berliner Pressekonferenz definierte er die Relationen im Nahost–Konflikt / Appell an die Sowjetunion

Aus Berlin Mechthild Küpper

Bergen–Belsen, Worms und Berlin. Zuerst der Ort der Vernichtung. Dann eine Stadt, die den Glanz und die Verrohung im deutsch–jüdischen Zusammenleben repräsentiert. Schließlich Berlin, die Hauptstadt der Nazis und die offene Wunde, die sie hinterließen. Israels Staatspräsident besuchte in West–Berlin die Gedenkstätte Plötzensee, wo die Nazis über zweitausend ausländische und deutsche Widerstandskämpfer hinrichteten. Der blau–weiße Kranz in Form des Davidsterns, den Herzog in Plötzensee niederlegte, ist eine ungemein großzügige Geste. Shimon Peres, der als Ministerpräsident Israels vor gut einem Jahr in der Stadt war, ging nicht dorthin, weil der Widerstand gegen Hitler sich nicht aus Widerstand gegen die Judenvernichtung speiste. Im Juli 1945 war Chaim Herzog als Mitglied eines englischen Regiments das erste und bisher letzte Mal in Berlin. In seiner Rede vor der versammelten Berliner Presse sprach er von der „Vergangenheit, die wie eine unsichtbare Mauer zwischen unseren beiden Völkern steht“. Über die Berliner Mauer hinweg kritisierte er das „bedeutungsvolle Schweigen“ der DDR über die deutsche Verantwortung für den Nationalso zialismus. Der israelische Staatspräsident appellierte an die Sowjetunion, „ein neues Kapitel in den Beziehungen unserer beiden Völker zu beginnen.“ Er warnte auch die deutschen Politiker, deren Waffen–Handelstrieb so passend zu seinem Besuch ausbrach, „daß Deutschland die historische Verantwortung hat, Israel bei der zentralen Aufgabe des Überlebens zu helfen und sich all dessen zu enthalten, was zur Stärkung unserer erklärten Feinde beitragen kann“. Chaim Herzog erinnerte außerdem daran, daß die USA auch mit Hilfe von Waffenlieferungen im Wert von 20 Milliarden Dollar an die Schah–Regierung keine Stabilität in Persien hatte erreichen können. Diese nachträglich in sein Redemanuskript eingefügten Bemerkungen erhielten starken Applaus. Berlin sei „sowohl liebenswert als auch grausam“ zu seinen Juden gewesen, sagte Herzog vor der Jüdischen Gemeinde, wo er einen Kranz für die Opfer der Nazis niederlegte. Er erinnerte an Moses Mendelsohn und daran, daß in Berlin „für Juden und sogar für das Judentum die Neuzeit“ begann. Und daran, daß Berlin „Schauplatz unsagbarer Bestialitäten“ war. „Es war wirklich ein historischer Besuch“. Beim Abendessen vor Berliner Politikern und Jour nalisten stellte Herzog die Verzerrungen in der Wahrnehmung des arabisch–israelischen Konfliktes in den Mittelpunkt seiner Rede. Er beklagte das „Fehlen von Relationen“, den Verlust eines Sinns für Proportionen. Allein in einer Schlacht des iranisch–irakischen Krieges seien mehr Menschen getötet worden, als in allen arabisch– israelischen Kriegen zusammen. Dennoch werde geradezu zwang haft jeder Steinwurf am westlichen Jordanufer mehr beachtet als die „Hauptzentren des Blutvergießens“ etwa in Afghanistan, Iran, Irak, Libanon, Tschad und Sudan. Ausführlich schilderte Herzog, daß in den vergangenen zehn Jahren die Friedensbemühungen zwischen arabischen Staaten und Israel weiter gediehen seien. Er beklagte, daß es bei den Politikern in Israels Nachbarstaaten an Mut fehle, die Bemühungen von Sadat fortzusetzen. Frieden sei mehr als ein „erhabener Begriff“, erklärte Herzog. Er forderte die Freunde Israels auf, die „manchmal freigiebig mit politischem Rat“ seien, Ratschläge zu geben, „wie wir mit unseren Nachbarn zu direkten Verhandlungen ohne Vorbedingungen“ kommen könnten. Die allein könnten Frieden in die Region bringen. Als in Sabra und Shatila christliche Milizen Palästinenser umbrachten, erinnerte Herzog, habe sich die internationale Kritik gegen Israel gerichtet, dessen Truppen „sich zufällig in der Nähe befanden“. Heute, da in belagerten Palästinenserunterkünften Menschen hungern müßten, habe er „keinen Aufruhr in der Öffentlichkeit der zivilisierten Welt bemerkt“. Herzog, dessen Rede passagenweise wie eine Replik auf die vehemente Debatte in der deutschen Linken klang, beschrieb ausgiebig die „freie, vibrierende vielrassige Gesellschaft“ seines Landes und die vielfältigen Beziehungen zwischen Arabern und Israelis. Er wolle nicht behaupten, „daß Frieden herrscht“. Aber: „Der im Ausland überwiegende Eindruck einer Schwarz–Weiß– Konfrontation zweier Völker wird der Wirklichkeit nicht gerecht“. Spätabends kehrte Herzog nach Bonn zurück, von wo aus er gestern früh heimkehrte, verabschiedet von Richard von Weizsäcker, der ihn auch in Berlin begleitet hatte, und von Holger Börner, der ihn auf dem Flughafen in Frankfurt traf.

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