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Kühler Frühling in Prag

■ Am Samstag endete der Besuch des sowjetischen Parteichefs Gorbatschow in der CSSR / Zur Sprache kamen nicht nur sein Reformkurs, sondern auch innenpolitische Themen wie der „Prager Frühling“

Daß der sowjetische Parteichef Gorbatschow einen Tag früher als vorgesehen abgereist ist, hat die Gerüchteküche wieder kochen lassen. War die Verschiebung seiner Ankunft von der westlichen Presse als Zeichen eines politischen Schnupfens interpretiert worden, so waren jetzt einige Kommentatoren schnell bei der Hand, Widerstände des Militärs gegen den Abrüstungskurs des Parteichefs zu entdecken. Tatsache aber ist, daß der Besuch des sowjetischen Parteichefs in der CSSR großen Eindruck auf die Menschen gemacht hat. Und wahrscheinlich ist, daß das Auftreten Gorbatschows politische Konsequenzen hat, die über kurz oder lang zur Ablösung der jetzigen Regierung führen. Die Tendenz, die nun festgeschrieben ist, weist in Richtung Reform der Wirtschaft und auch Gesellschaft in der Tschechoslowakei. Gorbatschow hat es jedoch vermieden, die tschechoslowakische Führung frontal anzugreifen. Indem er davon sprach, daß die „Normalisierung 1968 der richtige Weg“ gewesen sei, hat er Parteichef Gustav Husak und der jetzigen Führung sogar Rückendeckung verschafft. Manche werden darüber enttäuscht sein, die jetzt schon auf eine Rehabilitierung der 68er Reformer hofften. Indem aber Gustav Husak im Gegenzug erklären mußte, Gorbatschows Kurs zu stützen, ist die Tür für eine Reformdiskussion in Prag prinzipiell geöffnet. Trotz dieser Rücksichtsnahme auf die Prager Füh rung hat es Gorbatschow an herber Kritik gegenüber dem realexistierenden Sozialismus nicht fehlen lassen. „Unsere Raketen“, erklärte er, „machten mit verblüffender Genauigkeit den Haileyschen Kometen ausfindig.“ „(...) Aber gleichzeitig mit diesem Triumph des wissenschaftlichen und technischen Denkens bleiben wir in der praktischen Durchsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Bedürfnisse der Volkswirtschaft augenscheinlich zurück. Einfache Geräte für das tägliche Leben haben beschämende Mängel.“ Oftmals frage man ihn, sagte Gorbatschow, einschließlich der Freunde, ob so eine scharfe Kritik der Mängel nicht „dem gesamten Sozialismus schaden“. „Die problemlose Darstellung der Wirklichkeit erwies uns einen schlechten Dienst“, schrieb er den tschechoslowakischen Genossen ins Stammbuch. „Es bildete sich ein Widerspruch zwischen den Worten und den Taten heraus. Ein ehrenhaftes Eingestehen der eigenen Irrtümer und Fehler ... festigt nur das Prestige des Sozialismus.“ „Die Führungsschicht ist so diskreditiert, daß ihnen in der Folge niemand mehr glaubt, niemand weiß, daß gelogen wird, daß es eine Doppelmoral gibt. Doch nur wenige regen sich darüber auf“, erklärt Jiri Dienstbier, ehemaliger Sprecher von Charta 77, zu diesem Widerspruch zwischen Wort und Tat. In der Führungsschicht, aber nicht nur dort, ist dieser Widerspruch zuviel. Im täg lichen Leben fange er schon bei den kleinen Kompromissen an, die fast jeder macht. Ein tschechoslowakischer Journalist wisse, daß er nicht die Wahrheit schreibt, mit Freunden teilt er andere Meinungen. Und dieser Zustand ist für ihn „normal“, er denkt dann nicht mehr nach. Überall gibt es diesen Begriff von Normalität: Der Widerspruch ist selbst verständlich geworden. Und wenn Gorbatschow diesen Zustand kritisiert, horchen auch die immer noch um ihre Bewegungsfreiheit und um ihr Rederecht kämpfenden Mitglieder von Charta 77 auf. Denn schließlich ist Gorbatschows Mission von „der Entwicklung der breiten Demokratie und der Selbstverwaltung des Volkes“, dem „Ausmerzen des Bürokratismus und des Mißbrauchs der Macht“ (Prager Rede) ihr eigener politischer Inhalt. Als Gorbatschow vor der Partei von der Notwendigkeit einer Wende spricht, die „in ihrem Charakter revolutionär“ sein soll, möchten viele dies als schallende Ohrfeige an die Adresse der Machthaber verstehen. Tauschpfand ökonomischer Abhängigkeit Daß Gorbatschow sich nicht wie Stalin oder Breschnew in die „innere Angelegenheit“ der Bruderstaaten einmischen will, solle man ihm ruhig abnehmen, erklärt Professor Jiri Hajek. Wenn Gorbatschow aber sagt, daß er nicht verheimlicht, daß die in der Sowjetunion verlaufende Umgestaltung dem „tiefsten Wesen des Sozialismus“ entspricht, drückt er einen Machtanspruch aus. „Im Prinzip bringen nur die hartnäkkigsten Reaktionäre, die Militaristen, in diesem Zusammenhang Groll auf“, erklärte er in Prag und wies daraufhin, daß die sozialistischen Lager in diesem Zusammenhang „größere Dynamik“ entwickeln müssen. An diesem Punkt wurden in Prag große Ängste sichtbar. Denn die tschechische Industrie ist in einer Krise. Die Westexporte des Landes sanken seit 1985 um 25 Prozent auf 17 Prozent und der Maschinenbau, das industrielle Rückgrat des Landes, ist auf den Weltmärkten kaum noch konkurrenzfähig. Bisher überbrückte die CSSR diesen Mangel durch einen gesteigerten Export in die Sowjetunion. Doch Gorbatschow möchte keine veralteten Maschinen mehr kaufen. So beschwörte die Prager Führung in diesen Tagen den „stabilen Markt“ der Sowjetunion und mußte sich doch von deren Parteichef sagen lassen, daß nur modernste Technologie für die Erneuerung der sowjetischen Wirtschaft, nur das höchste Niveau auf den Schlüsselgebieten des wissenschaftlich–technischen Fortschritts für sie in Frage käme. Wenn es der tschechischen Regierung also nicht gelingt, so der Fingerzeig aus Moskau, die eigene Produktion und damit den Maschinenbau zu modernisieren, müßte die Sowjetunion auf diese Produkte dann verzichten. Gewänne also die ökonomische Reform in der Sowjetunion an Dynamik, müßte die CSSR mitziehen oder sie verliert ihre Marktanteile in der UdSSR, ist die schlichte Botschaft aus dem Kreml. Daß die alte Garde den Anforderungen politischer Reform nicht mehr gewachsen ist, ist offensichtlich. Klar ist aber auch, daß die Erstarrung der letzten Jahrzehnte jede offene Gruppenbildung in der Partei verhinderte. „Die Gorbatschow–Generation ist in Wien oder in der Charta 77“, umschreibt Jiri Dienstbier das Phänomen. „Diese Leute sind schlicht ausgestiegen. Und auch wenn die Partei sich öffnen würde, wer wäre schon bereit, diesen Opportunisten Glaubwürdigkeit zuzugestehen. Solange die alte Garde an der Macht ist, wird doch niemand seinen eigenen Ruf ruinieren“. Reformer gesucht Da aber viele der jüngeren Mitglieder Mitläufer sind, die keine eigene Mission gesellschaftlicher Veränderung mehr haben, die besten Leute der mittleren Generation ausgestiegen sind und damit nicht mehr zur Verfügung stehen, hängt die Suche nach den Reformkräften davon ab, wie sich die politische Atmosphäre entwickelt. Darauf hoffen nicht nur die Leute von Charta 77. Nach dem Besuch Gorbatschows ist diese Meinung Allgemeingut geworden. Erich Rathfelder

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