: „Tote sind an der Tagesordnung“
■ In Calabrien tobt unter dem Deckmantel der Blutrache der Kampf um Mafia–Marktanteile / Fünf Tote in weniger als einer Woche / Treiben die Mammutprozesse in den sizilianischen Städten die Mafia zurück zu alten Pfründen in die Provinz?
Aus Africo Nuovo W. Raith
Der „Furgone funebre“, ein notdürftig schwarz gestrichener Fiat– Kleinlaster Typ „Panorama“ mit einem schiefen Holzkreuz drauf, hat heute „eine stinknormale Fuhre“, wie Carabinieri–Maresciallo Ernesto Di Galli versichert: Er soll den alten Alfredo abholen, der eines „ganz normalen Todes“ gestorben ist, an Alterssklerose. Alfredos Körper muß allerdings nahe dem alten, dem früheren Africo, geholt werden, und das liegt knapp 50 km vom neuen, dem „Africo Nuovo“ an der ionischen Küste, entfernt. Da verwundert es doch, daß sich gut zwei Dutzend Autos hinter dem Leichenwagen die größtenteils unbefestigte, geröllübersäte Bergstraße des Aspromonte hinaufquälen wollen. Hatte er so viele Verwandte? Ernesto lächelt milde: „Das sind Deine Kollegen, Reporter. Die wittern hinter jedem Toten hier Mord.“ Möglich. Aber die Polizeiautos? Mindestens drei haben sich in den Konvoi eingereiht. Auch das sei „normal“, erklärt Ernesto. „Wir machen das immer.“ „Immer“ - das bedeutet seit vergangenem Donnerstag. Da nämlich explodierte die „faida“, eine offiziell als Blutrache ausgegebene Serie von Morden. Fünf sind es bisher, 19 in den vergangenen beiden Jahren. Der vorläufig letzte - „voraussehbar“, wie der ermittelnde Staatsanwalt Macri sagt - am Sonntag. Am Donnerstag nachmittag hatten Unbekannte Domenico und Antonio Morabito erschossen, Vater und Sohn, Forstarbeiter mit Vorstrafen wegen mafioser Bandenbildung. Fünf Stunden danach hatte es im wenige Kilometer entfernten Bova zwei weitere Waldhüter erwischt, Salvatore Morabito und Paolo Ficara. Die Polizei rätselte noch, ob die zweite Bluttat Konsequenz der ersten war - da wurde ein weiterer Morabito, Antonio, Sohn des ermordeten Salvatore, umgebracht. Nicht leicht, sich bei all den gleichen Namen hindurchzufinden - denn die Verwandtschaft bedeutet in diesem Falle mitnichten Zusammenhalt. So waren die zuerst ermordeten Morabito mit dem steckbrieflich gesuchten Saverio Mollica liiert, der eine der mächtigsten Gangs der calabresichen Mafia leitet. Die beiden anderen Opfer aber gehören zu Domenico Palamara, der aus dem Zuchthaus heraus seinen Clan dirigiert. Die Ermordung des letzten Antonio Morabito hält Carabiniere Di Gallo ebenfalls für „normal“: „Klar, daß die auch den Sohn umlegen wollten.“ Eine eigenartige „Normalität“ in diesem Dorf: Knapp 3.000 Einwohner, eine seit langer Zeit verlassene Polizeistation - aber derzeit besetzt von mindestens 400 Polizisten, Agenten, Carabinieri. Trotzdem gelang der Mord am Sohn des Morabito - obwohl er „voraussehbar“ war, obwohl der Polizeipräfekt von Reggio Calabria für das Begräbnis der Donnerstags–Opfer aus Angst vor Hinterhalten die Öffentlichkeit ausgeschlossen hatte. „All das ist nicht typisch für Africo“, Bürgermeister Natale Bruzzaniti schüttelt ein übers andere Mal den Kopf, hat keine Erklärung, „warum das gerade hier passiert“. Der 40jährige Kommunist, Vorsteher einer „Krisenkoalition“, in der auch Christdemokraten und Sozialisten sitzen, versucht zu beruhigen - nicht recht glaubwürdig, wenn man die vier Polizisten mit Panzerwesten und MP im Anschlag neben ihm betrachtet. „Es liegt an den sozialen Bedingungen, hier sind alle arm. Rom müßte was für uns tun...“ Das ist nicht neu, und doch explodiert gerade jetzt die Gewalt in Kalabrien - 50 Opfer hat es seit Jahresbeginn in der Region gegeben. Für die Kripo ist es der Beweis, daß sich die Geschäfte der „Ehrenwerten Gesellschaft“ von Sizilen wegverlagern. Die großen Mafiaprozesse in Palermo, Messina, Catania haben es wohl ratsam erscheinen lassen, die Heroinraffinerien und die Einsatzzentralen an weniger exponierte Orte zu verlagern. Die „Blutrache“ - so werden hier die Serienmorde interpretiert, ist in Wirklichkeit nichts anderes als die mafiaadäquate Art, Marktanteile auszukämpfen. Warum aber gerade Africo? Italienhistoriker erinnern sich zwar bereits an merkwürdige, frühere Geschichten aus der Zeit, als es das „neue“ Africo noch gar nicht gab, sondern nur das alte, an den Hängen des Aspromonte. Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts legte man dorthin eine Telegraphenleitung, um Banditen zu bekämpfen; in den zwanziger Jahren wählte der Analphabetismus–Bekämpfer Zanbotti–Bianco das „unzugänglichste Dorf des Landes „ als Symbol für seine Alphabetisierungskampagne; 1951 rutschte die Gemeinde samt neuer Schule 200 Meter zutal - und wurde nicht am alten Ort, sondern in öder Schnellbauweise 50 km entfernt am Meer wiederaufgebaut, wo es schöne Grundstücksspekulation für die örtlichen Honorationn gab. Der Grund für die neue „Bedeutung“ Africos begründen illiusionslose Mafiaexperten damit, daß sich von hier aus die Zugänge zum Aspromonte mühelos kontrollieren lassen, und das ist in vielerlei Hinsicht von Bedeutung. „Erstens“, bemerkt Luciano Violante von der parlamentarischen Antimafiokommission, „gibt es hinreichend Belege, daß die Sizilianer nach der Entdeckung einiger Heroinlbors in Palermo ihre Morphiumraffinerien in die unzugänglichen Zonen des Aspromonte verlegen. Und zweitens „haben die Großprozesse die internationalen Geschäfte der Mafia doch so geschädigt, daß sie sich wieder auf ihre „alten“ Erwerbszweige besinnen, darunter auch Raub und Entführung. Tatsächlich stand am Anfang der Morabito–“Blutrache“ auch eine Entführung: Vor vier Jahren wurde die Apothekerin Concetta Infantino entführt - und sofort, ohne Lösegeld, wieder freigelassen; Zeichen, daß es sich wohl um ein „verbotenes“ Kidnapping gehandelt hattte. Seither tobt der Krieg um die Vorherrschaft im Brigantengebiet. Angespornt wird der Kampf wohl auch noch durch Hintermänner aus Sizilien, die nun von hier aus ihre Geschäfte leiten. Dazu paßt auch, daß auf genau der gleichen Höhe um den Aspromonte herum, in Gioia Tauro, ein ganz analoger Krieg herrscht. Doch da hebt Africos Bürgermeister Bruzzaniti entsetzt die Hände, mit „denen dort drüben“ will er nicht in einen Topf kommen: „Dort sind Morde doch an der Tagesordnung.“ Die 19 Opfer der letzten beiden Jahre in Africo bedeuten wohl noch nicht „Tagesordnung“.
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