piwik no script img

„Warum nicht die Stahlbude besetzen?“

■ Aktionen der Thyssen–Arbeiter in Hattingen zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze brachten Vorstandspläne durcheinander Stimmung in der Belegschaft gespalten / Betriebsrat und Funktionäre halten „härtere Gangart“ noch für verfrüht

Aus Hattingen Petra Bornhöft

Nach vier Stunden Frühschicht hat sich Franz Dickmann freigenommen und ist vor das mit roten Transparenten verschönte Werkstor der Henrichshütte gezogen. Gemeinsam mit 35 Schlossern und Elektrikern schiebt der 40jährige Mahnwache, die in Hattingen von Dienstag bis Freitag rund um die Uhr stattfindet. Dort, wo die lokale FDP ein Hüttenmuseum inclusive Freizeitpark errichten will, stehen Arbeiter und neugierige Passanten vor dem Transparent „Wir schützen unsere Arbeitsplätze“. Während ihnen die Sonne auf den Pelz brennt, murren die Stahlwerker über den Metalltarifabschluß, diskutieren über die Weltlage, Thyssen und Fußball. In der Eingangshalle des grauen Glaskastens zwischen Hochofen und Stahlwerk verteilt ein kleiner Junge unbehelligt Flugblätter für die vier Kilometer lange Menschenkette, die gestern um das Betriebsgelände gezogen worden ist. „Hoffnung auf Erfolg? Na klar“, lächelt Franz Dickmann etwas unsicher und fügt leise hinzu, „alles andere verdränge ich“. Dann wieder laut und bitter: „Der Deutsche lebt, um zu arbeiten. Alles darfste ihm nehmen, nur dat nich.“ Doch genau das ist bekanntlich die Absicht des Thyssen–Konzerns. 2.900 Arbeitsplätze in Hattingen und 3.000 in Oberhausen sollen verschwinden. Nach Schätzungen der IG Metall wollen die Stahlbarone bis Ende 1988 30.000 Stahlarbeiter zum Arbeitslosenamt jagen. 500 Ausbildungsplätze allein in Hattingen stehen zur Disposition. In keinem der betroffenen Orte machte die Gewerkschaft derart mobil wie in der Kleinstadt an der Ruhr - und erreichte Punktsiege. Bereits Anfang April wollte Thyssen von Drei– auf Zweischichtbetrieb umstellen, sollten die ersten 250 Arbeiter rausfliegen. Daß dies nicht geschehen ist und der Vorstand über die Ausbildungsplätze neu „nachdenken“ will, werten die meisten Stahlarbeiter als „Erfolg“. „Wir haben die Pläne des Vorstandes durcheinander gebracht“, schwächt der erste IGM–Bevollmächtigte Otto König ab und warnt vor Euphorie: „Thyssen kann den Gesamtentlassungsplan bis zum 1.10.88 noch einhalten“. Die meisten Betroffenen führen die Verzögerung auf ihre Aktionen zurück. Während gerade der besorgte Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes Südwestfalen mit einem Betriebsrat für ein „historisches Foto“ posiert, bemühen sich Franz Dickmann und Kollegen, die Aktionen aufzuzählen: Demonstration im Januar, Autokorso und Mahnwache in Bonn, 30.000 Menschen, die Hälfte der Einwohner, protestierten im März in Hattingen, während Geschäfte und Behörden geschlossen blieben. Eine Fraueninitiative belagerte die Thyssen– Hauptverwaltung in Duisburg. Auf die Straße gingen sämtliche Vereine der Kleinstadt, in der jeder dritte Arbeitsplatz von der Hütte abhängt. Jugendliche fuhren nach Oberhausen zum Tribunal gegen die angekündigte Vernichtung von 50 Prozent aller Ausbildungsplätze allein in Hattingen - seit Monaten ist die ganze Stadt aktiv. Das vor vier Jahren bei der Henrichshütte und später bei der bundesweit bekannten Mönninghoff–Fabrikbesetzung erprobte IGM–Konzept - Mobilisierung der Bevölkerung und der Medien - stieß erneut auf große Resonanz, so die einhellige Meinung der Männer vor dem Tor. Doch wie soll es weitergehen? „Wenn bei unseren systema tisch aufgebauten Aktionen nichts rauskommt, legen wir eine Schüppe drauf“, kündigt Betriebsrat Willi Budzylek noch vorsichtig weitere Aktionen an. Franz Dickmann indes sieht „langsam den Zeitpunkt kommen, wo wir den Laden platt machen müssen“. Was das bedeutet, präzisiert Vertrauensmann Klaus Thomaßen: „Warum sollen wir die Bude nicht dichtmachen und besetzen? Wegen der Mahnwache wird doch keine Tonne Stahl weniger produziert, die scheffeln weiter ihre Gewinne, und wir sind die Doofen.“ Beifälliges Kopfnicken der Umstehenden, die alle fast ein halbes Leben bereits in der Hütte malochen. Franz Dickmann seit 25 Jahren, sein Vater und Opa brachten es auf 65 Arbeitsjahre in dem „Familienbetrieb“, wie man den Laden nennt. Daß sein Sohn bei Thyssen einen Beruf lernen kann, glaubt der Vater nicht. Ihm selbst ist es mittlerweile (fast) „egal, ob ich einen Monat früher oder später arbeitslos werde“. Diejenigen, die noch am ehesten auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze hoffen, beteiligen sich kaum oder zögernd an den Aktionen. Thyssen versprach nämlich, 1.800 Beschäftigte in der Weiterverarbeitung der Henrichshütte behalten zu wollen. „Langsam leuchtet den Kollegen ein, daß man den Rohstahl genauso gut in Duisburg verarbeiten kann und die bestimmt den Laden hier komplett schließen“, vermutet Klaus Thomaßen und hofft auf größeres Engagement der Betroffenen. Stocksauer reagieren die Arbeiter auf vorübereilende Angestellte, von denen bisher kaum jemand zu aktivieren war. Aus der Anlage im Bauwagen dröhnt die „Internationale“. Über den weiteren Aktionsplan für das letzte Gefecht nach dem großen Kulturfest am 1. Mai vor der Hütte „müssen wir noch entscheiden“, sagt IGM–Chef Otto König, der sich „manchmal in der Rolle des David gegen den Thyssen–Goliath fühlt“. Wenn man den Widerstand zu früh eskaliere und der Erfolg sich nicht einstelle, könne sich die schon jetzt bemerkbare Resignation vergrößern. „Ich schließe dennoch Streik oder vielleicht Betriebsbesetzung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus.“ Franz Dickmann hört schweigend zu. Seine Mahnwachen–Schicht ist beendet. Ob er wieder vor dem Tor stehen wird? „Klar, heute abend nach dem Fußball.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen