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Mit der Dampflok ins Atomzeitalter

■ Vierhundert britische Atomtouristen begaben sich am Tschernobyl–Wochenende auf einen Strahlen–Trip nach Sellafield / In dem ältesten Atomprojekt der Insel gab es bisher 300 Unfälle / Am Samstag gabs Kaffee und Kuchen

Aus Sellafield Rolf Paasch

Schon bei der Abfahrt am Londoner Bahnhof Euston gibts Ärger. Einem wolligen Tschernobyl– Schaf mit vier Menschenbeinen wird zunächst der Zutritt zum Bahnsteig verwehrt. Doch schließlich dürfen sich das radioaktivierte Tier und sein Begleiter, ein Skelett mit Geigerzähler, dann doch noch höchst persönlich von den 400 Atomtouristen verabschieden, die für diesen Samstag einen Platz auf dem ersten „Sellafield Sightseer“ gebucht haben. Und ab geht die Fahrt, von den Atomkraftgegnern symbolisch dekontaminiert, von der Atomindustrie mit Hochglanzbroschüren versorgt: Wir nehmen Kurs auf das nordenglische Carnforth, dem ersten Haltepunkt unserer Reise ins Atomzeitalter. Wer fährt bei so etwas mit? Andrew und Robert, zwei pensionierte und weltenbummelnde Armeeangehörige aus Oxford. Edna und Bert aus Orpington, die einfach nur neugierig sind, „vor allem auf die Lokomotive“. Und Jeff, ein 42jähriger Angestellter und „Railway Buff“, ein passionierter Zugfreak. Er trägt ein kleines Notizbuch mit meist vierstelligen Nummern bei sich, von denen ein Drittel bereits durchgestrichen ist. Lotto? Nein. Lokomotivnummern, die, sobald gesehen, abgehakt werden. Drei Stunden später in Carnforth, wo unseren erstklassigen und holzgetäfelten Pullmann– Waggons endlich die berühmteste Dampflokomotive der Welt vorgeschnallt werden soll, gibts erneut Schwierigkeiten. „Achtung Weirdos“, (Verrückte) brüllt Andrew von seinem Fensterplatz, als griffe eine Indianerhorde den Zug an. Die „Weirdos“ sind von „Greenpeace“ und befeuern uns mit Flugblättern, die mit beunruhigenden Zahlen und morbiden Cartoons bedruckt sind. So was gabs in den guten alten 20er Jah ren nicht, muß sich der an der Zugspitze ärgerlich schnaubende „Flying Scotsman“ gesagt haben, der weiland den Geschwindigkeitsweltrekord zwischen London und Edinburgh aufgestellt hatte. Zwei Störenfriede, die ihm ein Tschernobyl–Banner überstülpen wollten, werden in Handschellen abgeführt. „Das konnte ja nicht gutgehen, so ein Trip am Wochenende von Tschernobyl“, sagt einer. Entlang der malerischen Küste Cumbrias dampfen wir über Viadukte und durch Tunnels Richtung Sellafield. Wie in jedem guten Reiseführer winken uns freundliche Einwohner vom Wegesrand zu. Tausende sind an diesem sommerlichen Apriltag an die Strecke gekommen, um den „Flying Scotsman“ zu grüßen. Brücken und Böschungen sind mit Hobbyfotografen bevölkert, um das dampfende Ungetüm aus dem gußeisernen Zeitalter zu bewundern. Eine Stimmung wie bei der Tour de France. Doch während sich jeder vernünftige Tourist das schönste Fleckchen zum Ziel er wählt, taucht für uns der größte Schandfleck der Region, die Atomanlage von Sellafield, am Horizont auf. 300 Unfälle, eine meilenlange Mängelliste: „Windscale Works“, die ersten militärischen Atomreaktoren, gebaut in den frühen 50er Jahren; „Calder Hall“, das erste kommerziell genutzte Atomkraftwerk der Welt, 1956 von der Queen eröffnet; die silbrige Kugelsilhouette eines gasgekühlten Versuchsreaktors; die geschlossene WAA von gestern; die von Lecks gebeutelte WAA von heute; und THORP, die WAA der Zukunft, die gegenwärtig von 15 Baukränen in die Höhe gezogen wird. Von der Blaskapelle, die uns am kleinen Werksbahnhof von Sellafield empfängt, ist nicht viel zu hören. Das Megaphon der lokalen Atomkraftgegner übertönt alles: „Leukämie. Hier wird Leukämie produziert.“ An den Protestlern vorbei werden wir in Busse verfrachtet. Als ein Greenpeacler unseren Bus betritt und uns auffordert, den Leuten von der Betreiberfirma BNFL nichts zu glauben, wird er von den Passagieren zornig niedergebrüllt. „Hoffentlich macht die Polizei den fertig“, äfft ein Achtjähriger hinter mir seinen Atomstrom–Vati nach. Ein Polizist der britischen Atomaufsichtsbehörde A.E.A., der im Ernstfall nicht einmal dem Innenminister gehorchen müßte, sammelt Namen und Adressen der Businsassen ein. In den sicheren Fängen der Pressesprecher und Public–Relations–Agenten von BNFL wird nun eine Demonstration in selektiver Wahrnehmung geboten. Aussteigen und fotografieren verboten. Während wir mit dem Bus durch die riesige Anlage gondeln, gipfelt die groß verkündete Offenheit der Atomindustrie in der Ausstrahlung einiger Videos über Sicherheit und den Schleuderpreis von Atomstrom. Auf das Video über die Verwendung des „wertvollen Nebenprodukts“ Plutonium für militärische Zwecke warten wir vergeblich. Danach Kaffee und Kuchen. Und ab in das jährlich von 65.000 Atomtouristen besuchte Ausstellungs–Zentrum. Neben jeder Ausstellungstafel hat sich ein Entertainer der Atomindustrie postiert. Man erkennt sie an ihren blauben BNFL–Schildchen, Menschen, die selbst beim Super–GAU noch lächeln könnten. Diese Clowns der nuklearen Postmoderne erklären uns - mittlerweile zum dritten Male - wie sauber, sicher und spottbillig der Atomstrom ist. Daß sich der in der Brochüre angegebene Preis der neuen THORP–Anlage von 1,3 Mrd. Pfund in der Ausstellung bereits auf 1,6 Mrd. erhöht hat, fällt niemandem auf. Die auf dem Greenpeace–Flugblatt formulierten peinlichen Fragen sind längst vergessen. Die Teilnehmer unseres Nuklear–Exkurses verhalten sich wie die Osterlämmer am Wegesrand. Sie suchen in der Gruppe Schutz und blöken nur gelegentlich, zum Beispiel wenn ihnen wieder ein neuer Anstecker ans Revers geheftet wird: „Auch wir waren in Sellafield.“ Bei der Abfahrt vom katastrophenträchtigen Gelände stehen sie dann alle noch einmal Spalier. Die Blaskapelle, die freundlichen BNFLler und die bewaffnete Atompolizei. Jeff ist jetzt ganz aufgeregt, denn vor den Waggons dampft nun die „City of Wells“, ein aerodynamisches Kohlemonster aus den 40er Jahren. Nr. 279494. Abgehakt. In Carnforth gibt es dann für Andrew und Robert noch einmal Gelegenheit, ihre Eingeborenen–Witze aus Südafrika zu unterbrechen und über die Atomkraftgegner zu fluchen: „Bombendrohung, alles aussteigen“. Kurz vor Mitternacht, müde und hungrig, weil das Abendessen unterwegs verloren ging (Sabotage?), kippen denn die vierhundert Strahlentripper in Euston aus den Pullmann–Waggons. Ein einsamer Demonstrant empfängt sie mit seinem Plakat: „Hätten Sie Tschernobyl am 25. besucht, hätten Sie auch nichts gesehen. Wären sie am 26. dort gewesen, hätte man sie evakuiert oder noch schlimmer. Was beweist ein Besuch in Sellafield?“

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