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Mit „Spezialbrille“ gegen radioaktiven Staub

■ Berliner Frauen erinnern mit Aktionen an den SuperGAU von Tschernobyl / Behörden zeigen Mitgefühl für rückläufigen Milch– und Schokoladenverkauf / Mit lärmenden Kochtöpfen an alte Widerstandsformen erinnert

Aus Berlin Gunhild Schöller

„Guten Tag, ich bin die Tochter einer Frau, die ein Milchgeschäft betreibt. Meine Mutter ist schon alt, deshalb komme ich.“ Eine junge blonde Frau im rosa Dirndl und beigen Popelinemantel betritt das Geschäftszimmer der CDU– Fraktion im Rathaus Schöneberg. Sie beklagt, daß das Geschäft seit Tschernobyl stark zurückgegangen sei. „Immerzu fragt die Kundschaft danach, wie stark die Milch belastet ist und alle kaufen sie viel weniger als früher.“ Als sie ihr Anliegen vorträgt, „daß das endlich aufhören muß, daß immer irgendwelche Werte über die Belastung der Milch veröffentlicht werden“, begegnen ihr die Empfangsdamen mit Mitgefühl und Verständnis. Zuständig sei aber doch der Wirtschaftsexperte der CDU–Fraktion. Bei den Fraktionen der SPD und FDP, denen sie ebenfalls einen Besuch abstattet, wird sie zum Umweltexperten geschickt. Ein Jahr und einen Tag nach dem SuperGAU in Tschernobyl haben sich Frauen an verschiedenen Plätzen in Berlin zu Aktionen zusammengefunden. Zum Teil offen, zum Teil verdeckt agierend, zeigen sie, daß sie die Gefahren der Atomtechnologie nicht vergessen und verdrängen wollen. „Tschernobyl hat unser Leben verändert. Unsere Angst ist unsere Hoffnung“, steht auf einem Plakat, das eine Frau vor dem Rathaus Schöneberg auf dem Rücken trägt. Andere rücken als Putzfrauen verkleidet und mit gelber „Spezialbrille“ an, mit ihr, so versichern sie, könnten sie radioaktiven Staub erkennen, den sie nun wischen wollten. Das Personal reagiert humorlos und drängt die eifrigen Putzfrauen aus ihren sauberen Büroräumen. Eine andere Frau beklagt sich, daß sie dieses Jahr in ihrem Süßwarengeschäft auf den Schokoladen–Ostereiern und -Hasen sitzen geblieben sei. Sie geht von Zimmer zu Zimmer und fragt, wo die zuständige Stelle für die „Entschädigung“ ihrer Einbußen ist. Offensichtlich kann ihr niemand helfen. Während diese Frauen ein bißchen Leben in den gewöhnlichen Alltagstrott des Rathauses bringen, breiten andere vor dem großen grauen Gebäudeklotz einen schwarz–gelben „Strahlen“–Teppich mit den Zeichen für Radioaktivität aus. Eigentlich sollte das glänzende Kunstwerk auf der Treppe zum Portal des Rathauses zum Liegen kommen. Damit alle, die ins Rathaus wollen, darüber gehen und - zumindest kurz - darüber nachdenken müssen. Doch das wurde nicht genehmigt. Um 10 Uhr bricht schrilles Getöse los, die Frauen schlagen mit Blechkochtöpfen, Deckeln und Waschbrettern Krach, einige läuten mit Kuhglocken. Dann halten sie kurz inne. Eine Frau liest ihre Forderungen laut vor: Die Herabsetzung der Grenzwerte, die Pflicht zur Kennzeichnung von Nahrungsmitteln über ihren Verseuchungsgrad, kein Export von verstrahlter Nahrung in die Länder der Dritten Welt. Und natürlich und vor allem: Stillegung aller Atomanlagen. Die Frauen stehen im Halbrund, vor sich große Zwei– Liter–Milchtüten, die reißen sie jetzt auf. Gelblich–weiße Flüssigkeit klatscht auf das graue Pflaster, ergießt sich vom Bürgersteig auf die Straße, wird von den Reifen vorbeifahrender Autos weiter verteilt. „Wir wollen unsere Forderungen dem Petitionsausschuß überreichen“, schlägt eine der beteiligten Frauen vor. Die andern wollen sofort mitkommen. Sie schlängeln sich durch die parkenden Autos, ziehen die breite Treppe hoch, drängen durch die große Tür, sammeln sich im Vorraum. Doch die Wachmänner des Rathauses in ihren grau–blauen Uniformen sind schneller und bestimmter. Sie verriegeln die Türen, drängen die Frauen zurück. Die wiederum greifen zu ihren Kochlöffeln und -töpfen. Ein Höllenspektakel bricht los, die grauen Steinwände geben alles mit Widerhall zurück. Die Frauen lachen - die „Katzenmusik“ macht ihnen Spaß. Mit ihr knüpfen sie an eine alte Widerstandsform an. Schon im letzten Jahrhundert zogen Frauen mit solchen Instrumenten zum Beispiel vor das Haus des Bürgermeisters, wenn sie mit dessen Entscheidungen unzufrieden waren. „Ich habe unsere Forderungen dem Petitionsausschuß übergeben, leider war der zuständige Sachbearbeiter wie immer nicht da“, kommt eine der Aktionistinnen aus den „heiligen Hallen“ zurück. Da gehen die Frauen raus aus dem Vorraum, rauf auf die Treppe, halten ihren Strahlenteppich hoch, singen und lärmen und scheren sich nicht darum, daß immer wieder ein Wachmann seine Stimme erhebt und sie auffordert, die Treppe zu räumen. „Ich fordere Sie zum dritten Mal auf...“ - sein Megaphonstimmchen geht unter in der Katzenmusik.

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