: Wörner will neue Pershing–Raketen
■ Während öffentlich über die „Doppelte Null–Lösung“ für alle Mittelstreckenraketen gestritten wird, will das Verteidigungsministerium bereits neue Raketen vom Typ Pershing I ordern / US–Präsident Reagan legt Abrüstungsplan für strategische Atomwaffen vor
Berlin/Bonn (taz/dpa) - Mitten in die Beratungen von Bundesregierung, Koalitionsparteien und NATO über eine Position zur Null–Lösung für atomare Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite (500–1.000 Kilometer) platzte gestern ein Positionspapier des Bundesverteidigungsministeriums, in dem die Aufstellung neuer Raketen dieses Typs gefordert wird. Nach Informationen des „Si cherheitspolitischen Informationsdienstes (SISTRA), der sich auf das Papier stützt, will das Ministerium nicht nur die bereits vorhandenen 72 Pershing Ib (750 Kilometer Reichweite) modernisieren, sondern noch 80 zusätzliche moderne Raketen desselben Typs von den USA dazukaufen. Damit würden die bislang zur NATO gehörenden 72 Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite auf 152 Stück aufgestockt und auf den Stand gebracht, über den die UdSSR zur Zeit verfügt. Der sowjetische Parteichef Gorbatschow hatte dagegen die Verschrottung aller Mittelstreckenraketen dieser Kategorie angeboten. Die Autoren des Positionspapiers des Bonner Verteidigungsministerium gehen davon aus, daß die NATO Strategie der Abschreckung ohne die Mittelstreckenraten unter 1.000 Kilometer Reichweite nicht zu ge währleisten sei. Bereits seit dem Besuch des US–Außenministers Shultz in Moskau ist bekannt, daß Verteidigungsminister Wörner entgegen der Auffassung von Außenminister Genscher eine Null–Lösung in diesem Bereich verhindern will. Nach Informationen von ap ist aufgrund dieser Auseinandersetzungen auch von dem für heute vorgesehenen Spitzengespräch zwischen Bundeskanzler Kohl, CSU–Chef Strauß und Wirtschaftsminister Bangemann noch keine Entscheidung zu erwarten. Aus Kreisen der Union wurde auch gestern bekräftigt, daß für sie eine Null–Lösung für Raketen unterhalb 1.000 Kilometer Reichweite nur infrage kommt, wenn gleichzeitig ein weltweites Verbot chemischer Waffen und eine Angleichung im konventionellen Bereich erfolgt. Fortsetzung auf Seite 2 Einen Tag vor den gestern wieder aufgenommenen Genfer Verhandlungen hat US–Präsident Ronald Reagan einen detaillierten Vorschlag für den Abbau der strategischen (weitreichenden) Atomwaffen um 50 Prozent über einen Zeitraum von sieben Jahren vorgelegt. Ein Abkommen in diesem Waffenbereich sei „selbst noch in diesem Jahr“ in Reichweite. Reagans Vorschlag basiert auf Übereinkünften, die während seines Gipfels mit Kremlchef Gorbatschow im vergangenen Oktober in Reykjavik gefunden wur den. Nach den Vorstellungen des US–Präsidenten sollen die beiden Supermächte die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe innerhalb der nächsten sieben Jahre auf 6 000 reduzieren. Die Zahl der Abschußsysteme - Raketen oder Bomber mit großer Reichweite - sollte auf 1 600 beschränkt werden. In Reykjavik hatte Reagan die Halbierung weitreichender Systeme innerhalb von fünf Jahren vorgeschlagen. Mit dem neuen Zeitplan komme Washington den Wünschen den Sowjets entgegen, sagte ein Sprecher des Außenministeriums. Die USA und die UdSSR sollten, so der Vorschlag des US–Präsidenten, außerdem übereinkommen, während dieser Zeit den ABM–Vertrag über die Begrenzung von Defensivsystemen einzuhalten. Dieses Abkommen aus dem Jahre 1972 ist angesichts der Bemühungen der Amerikaner um die Errichtung eines Abwehrsystems gegen Atomraketen (SDI) von großer Bedeutung. Nach dem Vorschlag Reagans, der den sowjetischen Unterhändlern in Genf noch in dieser Woche formell unterbreitet werden soll, stünde es beiden Staaten nach 1994 frei, mit der Stationierung eines Defensivsystems zu beginnen. Zum Bereich der Mittelstreckenraketen sagte Reagan, es blieben noch „wichtige Fragen zu klären“. Ronald Lehman, der in Genf für START zuständige US–Unterhändler sagte, ein Hindernis auf dem Wege zu einem Abkommen über strategische Waffen sei nach wie vor die Forderung Moskaus, eine solche Vereinbarung von Zugeständnissen Washingtons bei den Weltraumwaffen abhängig zu machen. Auch er betonte aber, in den vergangenen Monaten sei ständig Fortschritt gemacht worden. Beide Seiten seien sich beispielsweise bei den Untergrenzen für die verschiedenen Langstreckensysteme näher gekommen.
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