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Psychiatrisches Elend im „Schachtbetrieb“

■ Sechs Jahre nach der Betrugsaffäre im Gelsenkirchener Sozialwerk St. Georg / Der Psychiatriekonzern setzt auf neues Personal und „langfristige Strukturveränderungen“ / Dennoch wird noch immer geschlagen und geprügelt

Von Petra Bornhöft

Gelsenkirchen (taz) - Per Handschlag begrüßt der blasse Alte die Besucher des „Schachtbetriebes“ auf begrüntem Zechengelände: „Guten Morgen, Herr Direktor.“ Bei dieser Anrede fühlt sich Dr. Wolfgang Ballke, Vorstandssprecher des Gelsenkirchener Sozialwerks St. Georg, sichtbar unbehaglich. Denn der Chef eines der größten Psychiatriekonzerne bevorzugt joviale Umgangsformen gegenüber Personal und Patienten. Vor zwei Jahren hat er die Verwaltung von 36 Heimen und inzwischen 1650 Kranken übernommen. Zwei Vorgänger hielten nur kurz in dem Betrieb aus, dessen Gründer Johannes Hennemeyer den Landschaftsverband Westfalen um 15,2 Millionen Mark erleichtert und St. Georg in die Pleite getrieben hatte. Nachdem dieser 1981 für drei Jahre in U–Haft gewandert war, sanierten Behörden und Banken das Privatunternehmen. „An die Patienten hat niemand gedacht“, moniert Dietrich Lacker von der Dortmunder Selbsthilfe (DSH), die seit Jahren den „Elendskonzern“ angreift und der „neuen Offenheit“ in den Führungsetagen mißtraut. „Nix ist bei St. Georg in Ordnung“, räumt Dr.Ballke freimütig ein, „aber es gibt positive Ansätze. Überzeugen Sie sich selbst“. Wir stehen in dem langen Flur eines vierstöckigen Gebäudes. Aus dem Kofferradio am Boden erklingt laute Musik. Zwischen unzähligen Türen sitzen etwa zwanzig Männer an Wandtischen auf dem Gang. Manche schauen die Fremden neugierig an, andere stochern im Essen, unterhalten sich oder starren gegen vergilbte Mauern. An dem Metallwagen mit den Kohlrouladen kommt man kaum vorbei, so eng ist es. Wer nicht auf den Flur paßt, hockt in seinem Vierbettzimmer. Mit schwer verständlichen Worten weist ein Mann im Rollstuhl auf sein Bett, über dem bunte, ungelenk bekritzelte Blätter hängen. Das ist der persönliche Schmuck in der „Wohnung“ eines Menschen, der seit einem halben Jahrhundert in Heimen lebt. „Früher war das hier ein psychiatrisches Ghetto, in das die überbelegten Landeskrankenhäuser schwer geistig Behinderte und Psychotiker abschoben“, erklärt Diplom–Pädagoge Dieter Rotthäuser und fügt schnell hinzu: „Natürlich ist es auch jetzt, wo hier statt 200 nur noch 80 Menschen leben, keine Umgebung, um aus einer Tiefstpsychose herauszukommen.“ Die erdrückende Enge dieser geschlossenen Abteilung sei Folge eines Umbaus, nach dessen Abschluß „Wohnzimmer und gute sanitäre Einrichtungen“ zur Verfügung stehen sollen. Unmittelbar neben Haus 10 steht die ehemalige Direktorenvilla des Zechenbarons, in der 36 ältere Frauen - das Durchschnittsalter aller Heiminsassen liegt bei 60 Jahren - untergebracht sind. Auch hier wieder schrille Musik im überfüllten Gemeinschaftsraum. Eigentlich wollte Dr. Ballke die Tätigkeit einer Beschäftigungstherapeutin vorstellen, doch die Behinderten, die nicht in der Werkstatt arbeiten, sind sich selbst überlassen. Ihre Betreuerin ist „langfristig krank und eine Pflegerin hat Urlaub“, heißt es. Personalprobleme sind es denn auch, die Ballke größte Sorgen bereiten. Kaufmann Hennemeyer hatte den „Schachtbetrieb“ - über diese furchtbare Bezeichnung eines psychiatrischen Heimes ist noch kein Reformeifriger gestolpert - nach der Zechenschließung erworben und arbeitslose Bergleute oder Hausfrauen in Pflegerkittel gesteckt. Ausbildung und persönliche Zuwendung für ihre „Schützlinge“ galten bei der Mehrheit der 1.000 Beschäftigten nicht als Qualifikationsmerkmal. Doch selbst nach einer Entlassungswelle 1985 und Einstellung von ausgebildeten Pflegekräften, Therapeuten und Pädagogen „haben wir längst nicht genug Fachpersonal“, klagt der Chef. Da die Gelder vom Landschaftsverband (Sozialhilfeträger) ausgeschöpft sind, setzt Ballke auf Fortbildung. Die Mitarbeiter „sollen für einen angemessenen, auf mehr Selbständigkeit gerichteten Umgang mit den Pflegebedürftigen gewonnen werden“. Dieser Prozeß scheint sich äußerst zäh zu entwickeln. Erst vor wenigen Wochen nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen Pfleger auf, der im Dezember einen Patienten derart geprügelt haben soll, daß der Verletzte zwei Tage später starb. Ende April verlor eine Pflegerin wegen mehrfacher Prügeleien ihren Job. Kurz vorher entließ Ballke eine Heimleiterin, die Patienten um Geschenke und Taschengeld geprellt haben soll. In beiden Fällen sprechen demnächst Arbeitsrichter das letzte Wort. Ein bitteres Kapitel, das auch nicht nach der laufenden Überp forderte der Staatsanwalt diese Woche, das Verfahren mit einer Geldbuße einzustellen. Dem Ankläger mißfiel, daß Hannelore Ochs „als schwächstes Glied in der Kette“ bestraft wird, während die Hauptbeschuldigten sich dem Knast durch ärztliche Attests entzogen haben. Dr. Ballke wünscht jetzt „Ruhe für langfristige Strukturveränderungen“, in der „Langzeiteinrichtung mit Chance, wieder rauszukommen“. Prinzipielle Zweifel dagegen bei der DSH: „Eine Kontrolle in dem Riesenladen ist unmöglich“, begründet Dietrich Lacker die Forderung, das Sozialwerk aufzulösen, kleinere Einrichtungen in den Gemeinden zu schaffen und ambulante Versorgung sicherzustellen. Auch Beschäftigte bei St. Georg stimmen vorsichtig zu. Praktische Schritte stehen allerdings nicht zur Diskussion. Alternativen müßten von außen kommen, „aber diese Gesellschaft will ja nicht mit ihren Kranken leben“, resümiert Lacker zehn Jahre aktive Unterstützung für entflohene Patienten. Eine Bilanz, die Ballke „glatt unterschreiben“ könnte.

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