Barbie–Prozeß vor leeren Stühlen

■ Seit der Abwesenheit des Angeklagten sind die meisten Journalisten aus Lyon abgereist / Vorbei der Showeffekt / Deutscher Staatsanwalt bestätigt die Echtheit der belastenden Dokumente / Läßt Anwalt Verges den Prozeß platzen?

Aus Lyon Lothar Baier

In der zweiten Prozeßwoche geht die Verhandlung gegen Klaus Barbie vor dem Schwurgericht Lyon weiter, nicht aber die Show. Übers Wochenende hat der große Exodus eingesetzt, da sich Barbie seit letzten Mittwoch weigert, an der Verhandlung teilzunehmen. Von den 800 akkreditierten Journalisten und Technikern ist nur noch ein Fähnlein von sieben mal sieben Aufrechten zurückgeblieben. Die Jury der Filmfestspiele in Cannes zieht die ausländischen Korrespondenten heftiger an als die Jury des Schwurgerichts. Das alternative Pressezentrum, das die Tageszeitung Liberation zusammen mit einer Computerfirma auf einem gegenüber dem Justizpalast vertauten Restaurantschiff eingerichtet hatte, hat abgerüstet: Ohne Barbie in der Angeklagtenbox lohnt es sich nicht, einen Park von Personalcomputern zu unterhalten. Die Kommunikationsmittel, die die Stadt Lyon den Korrespondenten in reichlicher Auswahl zur Verfügung stellt, sind so begehrt wie Christbaumkugeln fünf Tage nach Weihnachten. Kehrausstimmung in Lyon. Der Gerichtssaal mit seinen verwaisten Stuhlreihen ist nichts als ein Gerichtssaal, nachdem er sich in der ersten Woche zuweilen in eine Zweigstelle des „Cafe de Flore“ im Quartier Latin zu verwandeln schien. Man mußte sich, solange das Fernsehen in der Nähe war, doch einmal sehen lassen, chez Barbie. Der ehemals „neue Philosoph“ Bernard–Henri Levy teilte im Gerichtssaal seine Honneurs aus, ebenso der Sprecher von SOS Racisme, Harlem Desir. Danach ging es zu der vor dem Rathaus aufgebauten mobilen Holocaust–Gedenkstätte, deren Initiator Marek Halter immer für die Präsenz von Mikrophonen sorgte. Zum Abschluß noch eine Kostprobe der guten Lyonnaiser Küche, dann zurück nach Paris, mit dem letzten TGV. Und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen... Auch die Vertreter der Neben klage sind von der Aufbruchstimmung angesteckt. Die Stars - Roland Dumas, der ehemalige sozialistische Außenminister, Henri Nogueres, Präsident der Liga für Menschenrechte und Resistancehistoriker, Bernard de Granrut, Vorsitzender der Pariser Anwaltskammer– haben die vorderen Plätze geräumt. Zwischen Nebenklage und Verteidigung steht es nicht mehr 40 zu 1, sondern 20 zu 2: Barbies Verteidiger Jacques Verges hat einen zweiten Mann, einen Anwalt nordafrikanischer Abstammung mitgebracht. Unter der abnehmenden Übermacht der Gegenseite leidet Verges Kampfeslust, obwohl die verhandelte Sache sie hätte herausfordern müssen. Es geht um die Kernfrage der Beweisaufnahme: Lassen die Fernschreiben, in denen Barbie den Vollzug antijüdischer Aktionen an seine vorgesetzte Pariser Gestapo–Dienststelle meldete, den zwingenden Rückschluß auf seine Täterschaft zu? Die Zeugenaussage des Oberstaatsanwalts Alfred Streim von der Ludwigsburger Zentralstelle für die Erfassung von Naziverbrechen zerstreut alle Zweifel. Wenn Barbie die Meldungen unterzeichnete, so die Quintessenz der umständlich formulierten Sätze des deutschen Juristen, so übernahm er die Verantwortung für die gemeldete Aktion. Der Vermerk „ohne Vorgang“ zeigt zudem, daß Barbie nicht, wie die Verteidigung immer behauptet, auf einen bestimmten datierten Befehl hin handelte, sondern aus eigener Initiative. Kein Eichmann hat ihm demnach aufgetragen, 1943 eine Razzia gegen das Jüdische Komitee UGIF in Lyon zu starten oder 1944 jüdische Kinder aus Izieu zu verschleppen. Dem Verteidiger bleibt nur noch übrig, seine Replik aufs Schlußplädoyer zu verschieben. Daß es dazu überhaupt kommt, daran wird allmählich leise gezweifelt. Verges hat die Drohung in die Welt gesetzt, daß er die Verteidigung niederlegt und damit den Prozeß platzen läßt, falls Barbie auf Anordnung des Gerichts mit Gewalt vergeführt wird. Der Antrag ist wieder von Nebenklägern gestellt und vom Gericht abgelehnt worden, doch nur für den gegenwärtigen Zeitpunkt. Der Kleinkrieg zwischen Nebenklage und Verteidigung beginnt sich von der juristischen auf die psychologische Ebene zu verlagern und läßt erahnen, daß Barbies Auszug möglicherweise nicht die letzte große Überraschung war. Wird der Eklat, falls es einen gibt, unter Ausschluß der ermüdeten Öffentlichkeit stattfinden? Der Blick zurück ans Ende des Auditoriums erinnert daran, daß Öffentlichkeit nicht nur aus internationalem Journalismus besteht: Dicht gedrängt stehen die Zuschauer in dem winzigen für sie reservierten Raum, vor ihnen leere Journalistenstühle. Diese Bewohner der Stadt Lyon, der die Presse durchweg Desinteresse bis Ignoranz vorwirft, könnten im Fall eines Falles zumindest sagen: Sie seien dabeigewesen.