: Ausbau des AKW Tschernobyl gestoppt
■ Noch immer gibt es keine Analysen über die Atom–Verseuchung in und um Tschernobyl Atomlobby will immer noch nicht aufgeben / Bauarbeiterkollektiv war nicht mehr beisammenzuhalten
Aus Moskau Alice Meyer
Tschernobyl, das in gigantomanischen Plänen ursprünglich einmal das größte Atomkraftwerk der Welt werden sollte (sechs Reaktoren mit jeweils 1.000 MW–Leistung), wird nicht weitergebaut, wie der Vorsitzende des Staatskomitees der UdSSR für die Nutzung der Atomenergie, A.M. Petrossjanz, mitteilte. Dem jetzt amtlich verkündeten Baustopp waren Auseinandersetzungen in der sowjetischen Atomwirtschaft, in Wissenschaftler–Kreisen und in der Presse vorausgegangen. Nach dem Motto „jetzt erst recht“ wollten die Moskauer Energieplaner das Projekt der dritten Ausbaustufe in Tschernobyl mit zwei zusätzlichen Reaktoren durchziehen und damit eine Probe aufs Exempel machen, beweisen, daß Atomenergie–Ausbau in der UdSSR „ungestört“ weitergeht. Die Frage, wie und unter welchen Bedingungen an der dritten Baustufe des AKWs, dessen Gelände und die Umgebung noch immer durch radioaktive Substanzen verseucht sind, überhaupt gearbeitet werden kann, stellte sich in den Amtsstuben weitab von Tschernobyl anscheinend nicht. Jedenfalls lag bis zur Verkündung des Baustopps keine wissenschaftliche Analyse der Strahlung in Tschernobyl vor, meldete die Literaturnaja Gasjeta. Auch ist der Betrieb der beiden wieder laufenden Reaktoren der ersten Baustufe gegenwärtig nur nach der „Wachtowyj Metod“ möglich, d.h. das Bedienungs– und Wartungspersonal wird schichtweise aus größerer Entfernung herangefahren. Das Arbeitskräftekollektiv ist praktisch auseinandergefallen. Versuche der Planer, Funktionäre und Manager, die Leute mit Appellen an Heldentum und Mannhaftigkeit bei der Stange zu halten, sind fehlgeschlagen. Zu abschreckend wirkt das Beispiel derer, die Tschernobyl zwar überlebt haben, aber strahlenkrank sind, Dauerschäden davongetragen haben oder nicht wissen, ob und wann sie von Spätfolgen des Atomfeuers in der Nord–Ukraine betroffen sein werden. Es war offenbar so gut wie unmöglich, neue hochqualifizierte Arbeitskräfte für das Vorhaben zu rekrutieren. Wie die Literaturnaja Gasjeta zum Baustopp kommentierte, stellten die „Stärkung der demokratischen Grundlagen in unserer Gesellschaft“ und die „bittere Lektion der Havarie im AKW Tschernobyl“ die gegenwärtigen Führer der Atomwirtschaft vor die Notwendigkeit, „technische Entscheidungen in größerem Verantwortungsbewußtsein, in einer Atmosphäre der Kollegialität und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Ansichten“ zu fällen. Doch so ganz gibt sich die Moskauer Atom–Lobby nicht geschlagen, zumal an anderen AKW– Standorten munter weitergebaut wird. Ein Sprecher der Atomenergiewirtschaft der UdSSR ließ unlängst durchblicken, daß daran gedacht sei, nach „voller Liquidation der Havarie–Folgen“ in Tschernobyl ebenfalls weiterzubauen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen