: Ein letzter Todeszug im Chaos
■ Beim Prozeß gegen Klaus Barbie in Lyon wurde der letzte Deportationszug in deutsche KZs behandelt / Bislang keine klaren Beweise für Barbies Beteiligung / Berichte vom Chaos des Jahres 1944
Aus Lyon Lothar Baier
Seit Mittwoch wird im Barbie– Prozeß in Lyon der dritte und letzte große Tatkomplex, die Massendeportation von über 600 Personen am 11. August 1944, verhandelt. Der Nachweis, daß Barbie diese Deportation persönlich angeordnet hat, hängt bislang an einem kaum sichtbaren Faden. Die Resistancekämpferin Alice Vansteenberghe war in der frag lichen Zeit im Gestapogefängnis Fort Montluc eingesperrt, wurde aber nicht deportiert. Vor dem Ermittlungsrichter hatte die heute 79jährige Medizinerin ausgesagt, von ihrem Zellenfenster aus am Morgen des 11. August beobachtet zu haben, wie der Gestapo–Offizier, der sie verhört und gefoltert hatte und in dem sie später Barbie erkannte, das Zusammentreiben der Häftlinge für den Abtransport überwachte. Im Zeugenstand kann sie sich nicht mehr genau erinnern, es hätte auch am 17. August gewesen sein können, daß sie Barbie im Gefängnishof gesehen hatte. Keiner der danach auftretenden Zeugen kann Angaben darüber machen, wer das Kommando führte, als Hunderte von Gestapohäftlingen, Juden und Widerstandskämpfer am Morgen des 11. August 1944 zum Bahnhof Lyon– Perrache getrieben wurden. Fehlt den Berichten auch ein für das Gericht wesentliches Element, so bilden sie doch unersetzliche historische Zeugnisse. Die Geschichte dieses Transports mit der amtlichen Nummer 14166, der Lyon knapp drei Wochen vor der Befreiung der Stadt verließ, erhellt auf einzigartige Weise das Durcheinander von bürokratischem Ordnungswahn und wilder Improvisation, das in der Schlußphase des Zweiten Weltkriegs die Oberhand gewann. Während die Alliierten schon vor Paris standen und im Süden an der Mittelmeerküste gelandet waren, fanden die Nazis in Lyon noch Zeit, einen Deportationszug zusammenzustellen, mit einem Wagen 1. Klasse für die Herren von der SS. Das Ziel Drancy bei Paris war nicht mehr zu erreichen, so kroch der Zug in Zickzackfahrt auf Nebengleisen Richtung Osten. Unterwegs war sogar die Rede davon, die Häftlinge vorübergehend in Hotels unterzubringen. Erst nach einer Woche erreichte der Transport 14166 das Elsaß, wo die Männer unter den Resistancehäftlingen ausgeladen und ins KZ Schirmeck verfrachtet wurden. Auf die Frauen wartete in Saarbrücken der Abtransport Richtung Ravensbrück. Auf die Frage, weshalb es denn keine Versuche gegeben hätte, aus dem im Fahrradtempo dahinschleichenden Personenwaggons bestehenden Zug zu entkommen, wird die Antwort gegeben: weil niemand mehr bereit war, in Erwartung der allgemeinen Befreiung durch das Kriegsende ein besonderes Risiko einzugehen. Als der Zug in Stuttgart einfuhr, bestanden seine Insassen ausschließlich aus Juden. Sie wurden von braven Stuttgarter Familien beschimpft und bespuckt. Am 22. August 1944 traf der Transport aus Lyon in Auschwitz ein. Weil er der KZ–Bürokratie nicht ordnungsgemäß gemeldet worden war, war das übliche Empfangskomitee aus SS–Schlägern und selektierenden SS–Ärzten nicht zur Stelle. Bis die von Mengele selbst durchgeführte Selektion stattfand, hatten die Deportierten bereits erfahren, was die als nicht arbeitsfähig klassifizierten Deportierten erwartete. Als Mengele entdeckte, so berichtet die heute in Haifa lebende Lehrerin Charlotte Wardy, daß ein 12jähriges Mädchen vor ihm verborgen worden war, entriß er es der Mutter und warf ihr nach ein paar Stunden die Kleider der Tochter ins Gesicht. Auf die Überlebenden wartete die Sklavenarbeit in Rüstungsfabriken. In Lyon zeichnet sich inzwischen die Möglichkeit eines zweiten Prozesses gegen Barbie ab, in dessen Mittelpunkt die „Affaire Caluire“ steht, das heißt die Sprengung des Treffens Jean Moulins mit mehreren Resistanceführern durch die Gestapo von Lyon. Die Familie von zwei der damals mitverhafteten und später deportierten Resistancemitglieder Bruno Larat und Andre Lassagne haben in Lyon erfolgreich Klage eingereicht.
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