■ "Die Grundrechte stehen zur Disposition": Über die Politisierung der Volkszählungsbewegung / Ein Diskussionsbeitrag von Roland Appel
Die Bewegung gegen die Volkszählung 1987 hat unterschiedliche Menschen und politische Gruppen aus unterschiedlichen Motiven zusammengeführt. Neu daran ist, daß dabei herkömmliche und gewohnte politische Schranken in einem politischen Feld durchbrochen worden sind, in dem bisher klare Abgrenzungen vermutet werden mußten. Das Verständnis bürgerlicher Freiheitsrechte, von den einen verbal geschmäht, bei den anderern zum normativen Relikt verkommen, hat durch die Auseiandersetzungen um die Volkszählung neue Bedeutung erhalten. Interessante Koalitionen sind es, die sich in den Initiativen gebildet haben: Humanistische Union, Autonome, linke Gewerkschafter, CDU–Mitglieder, Liberale, die schon immer gegen zuviel Staat waren, und Sozialhilfeempfänger, Hausfrauen, Kommunisten, Taxifahrer und Jungdemokraten, Grüne und krawattentragende Beamte. So verschieden wie die Herkunft der Volkszählungsgegner/innen, so verschieden sind ihre Motivationen zum Boykott oder zur Kritik. Und diese Kritik scheint am Ausgangspunkt der Diskussionen etwa zu Beginn dieses Jahres weitgehend von den bekannten Interessen geprägt gewesen zu sein: Die einen waren gegen die Sicherheitsgesetze und den Überwa chungsstaat, die anderen dagegen, daß das Finanzamt doch ein paar Informationen zuviel bekommen könnte, die einen wollten endlich dem Staat eins auswischen, und die andern sorgten sich um den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es würde nicht fair sein zu behaupten, daß der Widerstand gegen die Volkszählung zu Beginn ein besonders politischer gewesen wäre. Gefühlsmäßiges Unbehagen und die Erinnerung, daß da 1983 doch schon einmal eine üble Geschichte hätte ablaufen sollen, brachte eine Anzahl von Leuten auf die Beine und zu Veranstaltungen, von der Politiker in Wahlkämpfen nur träumen können. Die Politisierung der Bewegung ist erfolgt. Sie geschah aber weniger durch Informationsveranstaltungen, sondern durch den besonderen Charakter staatlicher Reaktion auf die Vobo–Bewegung. Die Reaktion von Behörden vor Ort wie von Justiz und Regierungen haben der Auseinandersetzung um die Volkszählung eine neue Qualität gegeben, sie haben anhand des Umgangs mit einem Verhalten, das an sich für eine juristische Bagatelle gehalten werden mußte, ein beispielloses Instrumentarium der Einschüchterung und Gegenpropaganda entwickelt. Erst damit wurden die bis dahin abstrakten und oft nicht vermittel baren Analysen der Auswirkungen maschinenlesbarer Ausweise und Sicherheitsgesetze nachvollziehbar materialisiert. Nicht die eventuelle Bedeutung der Verwendung von Volkszählungsdaten für spätere Fahndungsmaßnahmen, also der hypothetische Mißbrauch, sondern der „Testfall Volkszählungskampagne“ machen den Kern der Politisierung der Vobo–Bewegung aus. Erst aufgrund von Verboten von Informationsständen, Tagungsorten, Demonstrationen, Hausdurchsuchungen und juristisch konstruierten Strafanzeigen trat die Politisierung ein, die deutlich macht, daß ein Klima geschaffen werden kann und geschaffen wurde, in dem Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Versammlungsfreiheit, das Post– und Fernmeldegeheimnis und die Demonstrationsfreiheit zur Disposition stehen. Erschreckend für manche Sozialdemokraten oder Liberale nicht nur, sich plötzlich in der Ecke mit Faschisten und Terroristen wiederzufinden - diese Tradition mag einigen von der Diskussion um die Notstandsgesetze noch in Erinnerung gewesen sein. - Erschreckend auch, wie Tageszeitungen in ihren redaktionellen Teilen vorgefertigte Texte des Statistischen Bundesamtes zum Teil ohne jede Veränderung abdruckten und wie Medien Gegnerschaft verschwiegen. Erst dadurch erhielten Diskussionsveranstaltungen eine im Medienzeitalter ungewohnte und fast vergessene Bedeutung zur Herstellung von Öffentlichkeit. Durch diese Politisierung reicht die Volkszählungsbewegung weit über ihren eigentlichen politischen Anlaß hinaus. Es verpflichtet die Initiativen, die Diskussion über den Stand der Grund– und Freiheitsrechte in dieser Gesellschaft weiterzutreiben und dabei neue Bündnispartner zum Beispiel bei den Gewerkschaften zu suchen. Es ist vielleicht nur Zufall, daß 1988 die Notstandsgesetzgebung ihr 20jähriges Jubiläum feiern kann. Das sollte Anlaß sein, mit diesen Kräften die Diskussion zu suchen und möglicherweise an Traditionen anzuknüpfen, die es auch in anderen Feldern genügend gibt. Berufsverbote und Antiterrorgesetze gehören ebenfalls dazu. Anlässe wird es genügend geben. Die „Sicherheitsgesetze“ der Koalition liegen in der Schublade, das „Zusammenarbeitsgesetz“ zwischen Polizei und Geheimdiensten wird weiterentwickelt. Die Vobo–Bewegung hat aufgrund ihrer Erfahrungen eine gute Chance und eine Menge Verantwortung, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Es geht nicht nur darum, die Bögen zu zählen. Roland Appel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Die Grünen und Mitherausgeber des Buches „Vorsicht Volkszählung“, Kölner Volksblatt Verlag, 1987
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