Barbie–Prozeß: Mißglückte Inszenierung

■ Der Ausfall des Hauptdarstellers und die Boykott–Taktik seines Verteidigers Verges bringen die Prozeßdramaturgie durcheinander / Große Worte prominenter Zeugen aus dem Widerstand / Geschichte der Resistance kommt weiter zu kurz / Schwindendes öffentliches Interesse

Aus Lyon Lothar Baier

Je länger sich die Auftritte der „Zeugen von allgemeinem Interesse“ hinziehen, desto schneller nimmt in der fünften Verhandlungswoche das allgemeine Interesse an den Zeugenaussagen ab. Selbst die Anwälte der Nebenklage wissen nicht immer auswendig, zu welchem Zweck sie Zeugen benannt hatten und müssen erst ihre Akten konsultieren. Die Langmut des Vorsitzenden Richters Cerdini, die in den ersten Wochen keine Grenzen zu kennen schien - auch ausufernden Volksreden gegenüber, die „la chose“, die Barbie vorgeworfenen Taten, unter einem Wortschwall begruben - zeigt jetzt allmählich Ermüdungserscheinungen. „Sie sprechen jetzt schon 20 Minuten über eine Sache, die nicht in den Prozeßakten steht“, weist er Zeugen zurecht. Mag die richterliche Ungeduld sich durch die Strafprozeßordnung gerechtfertigt und durch das Desinteresse im Saal bestärkt fühlen, so erscheint sie doch einseitig und ungerecht. Sie läßt den Zeugen Lazare Pitkowicz nicht ausreden, der die außerordentliche Geschichte der Fluchten eines halbwüchsigen staatenlosen Juden aus den Händen der französischen Polizei und der Gestapo zu erzählen hat. Die Geschichte der französischen Resistance, die in diesem Prozeß ohnehin zu kurz gekommen ist, wird damit beiseite gelegt. Entwertet wird auch der Bericht der aus Ost–Berlin angereisten Zeugin Dora Schaul, die im besetzten Lyon, als französische Zivilangestellte der Feldpost getarnt, die Resistance mit Informationen über die Stimmung in der Wehrmacht belieferte: da die deutsche Antifaschistin nicht von Barbies Gestapo erwischt und deportiert wurde, hat ihre Aussage über die Widerstandsarbeit von Emigranten nichts mit „der Sache“ zu tun. Ungeklärt bleibt auf diese Weise auch das dunkle Kapitel des Verrats, der im Mai 1944 die gesamte regionale Führung der kommmunistischen Widerstandsorganisation FTP Barbies Gestapo in die Arme trieb. Die Ungeduld Cerdinis, die den Zuhörern im Saal nicht auffällt, weil sie sie teilen, entspringt allerdings nicht bloßer schlechter Laune oder böser Absicht. Es ist die Ungeduld des Zuschauers, der miterlebt, wie vor seinen Augen eine groß angekündigte Inszenierung ins Wasser fällt und nicht mehr zu retten ist. Der Barbie– Prozeß ist in seiner fünften Woche aus dem Ruder gelaufen, und zwar deshalb, weil die Regisseure des Prozesses nicht damit gerechnet hatten, daß ihrem sorgfältig ausgearbeiteten Skript durch den Ausfall des Hauptdarstellers ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Sie haben die Prominenz der Resistance auf die Bühne gebeten, vom amtierenden Parlamentspräsidenten Chaban–Delmas bis zum Vorsitzenden des Buchenwald– Komitees Pierre Durand, um eine eindrucksvolle Mauer hochzuziehen, von der die erwarteten kleinlichen Angriffe des ehemaligen SS–Leutnants Klaus Barbie auf die Ehre des Widerstands schon der Größenordnung wegen abprallen müßten. Nun sind die Angriffe ausgeblieben, die Mauer steht prächtig und nutzlos da, und Barbies Verteidiger Verges lehnt es ab, für seinen Klienten einzuspringen und dadurch die Inszenierung des Prozesses noch halbwegs zu retten. Je größer die Worte, die aus den großen Zeugen herausgelockt werden, desto hohler klingen sie auf der für sie freigeräumten Bühne. „Es gab keinen Verrat an der Resistance, es gab nur eingeschleuste Kollaborateure“, verkündet Chaban–Delmas. „Zwischen Juden und Nicht–Juden hat die Rsistance nie einen Unterschied gemacht. Wir waren einig bis zum letzten.“ Aus dem Mund namenloser Zeugen „zur Sache“ hat man es in Lyon manchmal anders gehört. Denn wenn man nur das richtige Wort fürs Volk findet, darf man vor Gericht auch an der Sache vorbeireden.