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60.000 Krebstote

■ US–Knochenmarkspezialist Gale rechnet mit erheblichem Anstieg von Erkrankungen aufgrund von Tschernobyl–GAU

Bonn (ap) - Der amerikanische Wissenschaftler Robert Gale rechnet mit weltweit bis zu 60.000 zusätzlichen Krebstoten innerhalb der nächsten 50 Jahre als Folge des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Gale zog 14 Monate nach der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion am Freitag vor Journalisten in Bonn eine Bilanz der gesundheitlichen Folgen durch die radioaktive Strahlung. Der Knochenmarkspezialist hatte unmittelbar nach dem Reaktorunfall bei 13 besonders schwer betroffenen Unfallopfern Knochenmarktransplantationen vorgenommen, fünf von ihnen haben überlebt. Zur Zeit hält sich Gale auf Einladung des Deutschen Atomforums in der Bundesrepublik auf. Die meisten zusätzlichen Krebsopfer wird es nach Angaben des Wissenschaftlers von der Universität Californien in Europa geben, davon etwa 40 Prozent in der Sowjetunion. Gale verwies jedoch darauf, daß auch ohne Tschnernobyl allein in der Bundesrepublik rund 200.000 Menschen im Jahr an Krebs sterben. Insofern sei der Prozentsatz der zusätzlichen Krebsopfer nur sehr gering. In einem Zeitraum von 50 Jahren müsse ferner mit bis zu 5.000 Fällen genetischer Schäden und bis zu 1.000 Kindern mit Geburtsfehlern gerechnet werden, darunter vor allem geistige Behinderung und Leukämie. Eine der Lehren von Tschernobyl müsse lauten, daß nationale Interessen niemals die Kernenergie beherrschen dürften, da Radioaktive Strahlung keine Grenzen kenne. Das aus dem geborstenen Tschernobyl–Reaktor entwichene radioaktive Cäsium habe sich über die gesamte nördliche Halbkugel verteilt und werde sich erst nach 300 Jahren abbauen. „Ein Nuklearunfall irgendwo auf der Welt ist ein Nuklearunfall überall“, sagte Gale. Ein erneuter Reaktorunfall ist nach Auffassung Gales unvermeidbar. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls vom Ausmaß Tschernobyls, der nach Angaben Gales allein in der Bundesrepublik zusätzlich 1.000 Krebstote fordern wird, betrage innerhalb der nächsten 20 Jahre etwa 50 Prozent. Die Konsequenz daraus sei, daß in den nächsten Jahren alles getan werden müsse, um inhärent sichere Reaktoren zu entwickeln, die nicht mehr von menschlichem Fehlverhalten abhängig sein dürften. Die von Gale genannten Zahlen basieren nach seinen Angaben auf einem wissenschaftlichen Konsens eines internationalen Expertenteams. Einige Schätzungen der Spätfolgen von Tschernobyl seien drastischer, andere wesentlich vorsichtiger. Einen Ausstieg aus der Kernenergie empfahl Robert Gale nicht.

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