Die Tour braucht Gesprächsstoff

■ Beim Einzelzeitfahren und der 1. Etappe dominieren nicht die Stars

Vierundfünfzig–Zehn. Fünfundfünfzig–Zwölf. Die Zahlen werden gemurmelt wie magische Zauberformeln und notiert wie die neuesten Börsenkurse. Die Fachleute bücken sich oder gehen in die Knie, um sich mit einem Blick auf die Zahnräder der Schaltung noch einmal zu vergewissern. Ein beifälliges Nicken. Also doch: Didi Thurau will es heute beim Zeitfahren noch einmal wissen. Er fährt eine große Übersetzung beim Prolog der Tour de France am Mittwoch, 6,1 Kilometer den Kudamm rauf und runter. Fünfundfünfzig Zähne vorn und zwölf hinten bedeuten, daß ihn jede Pedalumdrehung ungefähr zwölf Meter dem Ziel näher bringt. Und daß jeder Pedaltritt enorme Kraft kostet. Die Wahl der Übersetzung ist ein diffiziler Poker mit den eigenen Energiereserven. Alles wird getan, dem Fahrer seine Arbeit zu erleichtern: Das Rennrad läßt sich mit dem Finger heben, Spoiler an den Lenkern, abgeflacht sind Speichen und Rahmen, aerodynamischer Helm. Der Luft keine Chance zum Widerstand. Die Hinterräder haben statt Speichen Carbonscheiben, aber was wie ein Schwungrad wirkt, bietet auch Angriffsfläche. Thurau läßt auch vorn eine Scheibe an–, dann wieder abmontieren. Ein Blick zur Konkurrenz, der Italiener Saronni und Favorit Roche fahren ohne. Rolf (“Turbo“) Gölz, einer von vier deutschen Teilnehmern, hat die Strecke bereits hinter sich - mit zwei Scheiben und einer schlechten Zeit. Wenn es gut geht, schätzt er, bringt jedes Schwungrad rund zwanzig Sekunden Zeitgewinn. Aber wenn Wind von der Seite kommt, „versetzt es dich“, bei einem Tempo von gut 50km/h. Thurau wird nicht vom Wind versetzt, sondern von Jelle Nijdam und vier anderen. Der 6. Platz enttäuscht ihn nicht, denn „mit 32 gehts nicht mehr so leicht wie vor zehn Jahren“. Damals gewann er den Prolog und fuhr 15 Tage im gelben Trikot des Spitzenreiters, entfachte eine Radeuphorie wie heute Boris Becker im Tennis. Radprofis müssen sich immer wieder neu verkaufen. Ein Etappensieg bei der Tour verdoppelt das Jahreseinkommen, weil Einladungen zu kleinen Rennen winken. Eine längere Alleinfahrt sichert die Gunst der Sponsoren, weil damit die Werbung so recht ins Bild gerückt wird. Deshalb ist gerade der Start die Chance für unbekanntere Fahrer wie Nijdam oder für Mannschaften, die keinen Favoriten auf den Gesamtsieg dabei haben. Die meisten dagegen nutzen diese Phase der Tour zum „einrollen“. Am Donnerstag geht es nicht mehr einzeln gegen die Uhr, sondern vom Brandenburger Tor aus auf eine Runde von 105 Kilometern durch ganz Berlin bis zum Rathaus Schöneberg. Hier wartet ein Kleinwagen auf den Sieger. Dazwischen liegen bei Sprint– und Bergpreisen einige Franc für die Mannschaftskassen. Lange fährt Giovanni Bottoia alleine allen voran. Zu lange, bei einem Tempo von 48 Stundenkilometern. Wenige Minuten vor dem Ziel wird er eingeholt, chancenlos gegen die sieben Verfolger. Während er sich abmühte, schonten die sich wechselseitig im Windschatten, brauchten gerade halb so viel Kraft. Es gewinnt der Niederländer Verhoeven, doch ins gelbe Trikot des Gesamtersten schlüpft Lech Piasecki. Zum ersten mal in der Geschichte führt ein Pole. Solchen Gesprächsstoff braucht die Tour. Thömmes