piwik no script img

Tschernobyl: Supergau vor Gericht

■ Prozeß gegen sechs AKW–Angestellte hat begonnen / Angeklagte: Konstruktionsfehler des Reaktors / Nur sechs westliche Journalisten zugelassen

Berlin (ap/taz) - In Tschernobyl hat am Dienstag der Prozeß gegen drei frühere Leiter des Atomkraftwerks und drei Angestellte der Reaktorzentrale begonnen. Der Prozeß, in dem der Ablauf des „schwersten Industrieunglücks der Menschheitsgeschichte“ im Mittelpunkt steht, wird weitgehend unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit stattfinden. Insgesamt sind nach Angaben von dpa nur sechs westliche Journalisten zugelassen worden. Den drei Hauptangeklagten, die nach dem Unglück entlassen wurden und sich in Untersuchungs haft befinden, drohen Gefängnisstrafen bis zu zwölf Jahren. Zu den Angeklagten gehören der frühere Leiter des AKW Tschernobyl, Viktor Brjuchanow (51), der frühere Chefingenieur Nikolai Fomin (50) und sein Stellvertreter Anatoli Djatlow (46). Gestern schilderten zunächst Fomin und Djatlow - mit anfänglich kaum hörbarer Stimme - ihren Lebenslauf. Die beiden Angeklagten widersprachen dem amtlichen Untersuchungsbericht, wonach ausschließlich menschliches Versagen zur Katastrophe geführt habe. Sie vertraten die Ansicht, daß Konstruktionsfehler am Reaktor die Schuld trügen. Nach Auskunft des Moskauer Außenministeriums wird den Angeklagten vorgeworfen, mit „grober Fahrlässigkeit“ die Reaktorkatastrophe in der Ukraine verursacht zu haben. Sie hätten es erlaubt, daß Personen, die dafür nicht ausgebildet und qualifiziert gewesen seien, unzulässige Experimente an dem Reaktor vorgenommen hätten. In mindestens sechs Fällen seien dabei die Vorschriften gravierend verletzt und Sicherheitssysteme außer Kraft gesetzt worden. Dadurch sei der Reaktor außer Kontrolle geraten und explodiert. Damit hätten sie den Tatbestand des Artikels 200 des ukrainischen Strafrechts erfüllt: „Verletzung von Sicherheitsvorschriften in Unternehmen mit explosiven Anlagen, durch die der Tod eines Menschen oder andere schwere Schäden vurursacht werden“. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar auf Seite 4 31 Opfer werden noch immer offiziell als Konsequenz des Unfalls angegeben. Die Sowjetunion hat diese Zahl allerdings niemals aktualisiert. Als z. B. der Regisseur des Tschernobyl–Dokumentarfilms seine Dreharbeiten mit dem Leben bezahlte und an der Strahlenkrankheit starb, blieb die Sowjetunion dennoch bei ihrer alten Zahl von 31 Toten. In die Kategorie der „anderen schweren Schäden“, die die Angeklagten durch ihr Fehlverhalten zu verantworten hätten, zählen die materiellen Verluste. Das Worldwatch–Institut hat die finanziellen Schäden durch den Tschernobyl– Supergau allein in der Sowjetunion auf 2,9 bis 5,1 Milliarden Dollar geschätzt. Den Angeklagten wird allerdings zugute gehalten, daß sie sich nach dem Unglück wochenlang der radioaktiven Strahlung ausgesetzt haben. Sie seien „nicht nach Hause gerannt, um nach ihren Frauen und Kindern zu sehen, sondern sind die ganze Zeit über im Dienst geblieben“, sagte der Leiter der Pressestelle des mit der Entseuchung beauftragten Unternehmens, Alexander Kowalenko. Fast die Hälfte der Bediensteten des Atomkraftwerks hatten sich nach dem Unfall abgesetzt. Der Prozeß in Tschernobyl steht unter dem Vorsitz von Richter Raymond Brize. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Obersten Gerichts der Sowjetunion. Als Gerichtsgebäude dient der Kultursaal der Stadt. Der Prozeß wird mehrere Wochen dauern. -man–

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen