: Kinder verkaufen als letzte Erwerbsquelle
■ In Süditalien wurde ein schwunghafter Handel mit Neugeborenen aufgedeckt / Mehrere Verteilernetze sind in den letzten Monaten ausgehoben worden / Für viele Frauen ist der Verkauf von Babys die einzige Einkommensquelle
Aus Cosenza Werner Raith
„So ganz genau“, murmelt Maria Grazia, „hab ich auch nicht kapiert, was daran kriminell ist ...“ Maria Grazia müßte es eigentlich wissen, denn sie ist Ordnungshüterin - eine von ca. 4.000 Polizistinnen in Italien. Derzeit ist sie freilich weniger mit der sonst üblichen Verkehrsregelung beschäftigt als mit der Hilfe bei Haussuchungen in allerlei unteritalienischen Gemeinden. Es geht um den Nachweis eines schwunghaften Kinderhandels, genauer gesagt: eines Neugeborenenhandels von ungeahnten Ausmaßen: doch die „Politessa“ ist sich nicht sicher, ob da nicht „schnell einige Wertmaßstäbe durcheinanderkommen“. Denn: „Bei den Frauen, die wir verhaften, steht gleichsam automatisch deren Schuld fest. Bei den Hintermännern muß die Schuld angeblich immer erst noch bewiesen werden.“ Bereits vor zwei Monaten hatten Carabinieri in Neapel einen ganzen Verteilerring - 22 Fest nahmen - ausgehoben, der innerhalb von drei Jahren fast dreihundert eben geborene Kinder verschoben haben soll. Kurz danach waren die Fahnder auch im Umland des Vesuvs fündig geworden; der neueste „Fall“ spielt noch weiter südlich, in Calabrien: in der Provinzhauptstadt Cosenza wurde ein weiteres Netz von Babyhändlern ausgehoben. Darunter waren auch eine 32jährige Frau, die innerhalb von acht Jahren zehn Kinder bekommen hat, von denen sie kein einziges behalten hat. Von einigen konnte die Polizei sogar Kaufnachweise beibringen: zwischen fünf und sechs Millionen Lira, umgerechnet zwischen 7.000 und 9.000 DM sollen sie dafür bekommen haben. Maria Grazia kennt die Frau, denn sie stammt ebenfalls aus der Nähe von Cosenza. „Mit den sechs Millionen kann sie gerade so ein Jahr leben“, sagt sie, „ansonsten findet in Calabrien sowieso keiner Arbeit, außer über Beziehungen oder indem du dich irgendjemandem auslieferst.“ Tatsäch lich zählt die Arbeitslosenquote in der Region zu den höchsten im Land - an die 20 Prozent, und dies, obwohl die Statistik–Kosmetik die Hausfrauen sowieso schon aus den amtlichen Erhebungen wegretuschiert hat. „Hier überlebst du nur, wenn du mit allem handelst, was du besitzt“, sagt Maria Grazia hart, „notfalls mit deiner Gebärfähigkeit.“ Die Ermittlungsakten belegen, daß es nicht nur um die Weggabe Neugeborener geht: hier ist tatsächlich organisierte Kriminalität am Werk: das Verteilernetz hat sich von jedem „Fall“ eine fette Geldscheibe abgeschnitten und vielleicht sogar im einen oder anderen massiven Druck auf „Gebärunwillige“ ausgeübt. Wofür Giuseppina fünf bis sechs Millionen bekam, kassierten die Organisatoren des Handels zwischen zehn und 50 Millionen bei den „Adoptiv“–Eltern, umgerechnet also bis 70.000 DM. „Das ist selbstverständlich“, erklärt mit seltsamem Einfühlungsvermögen Avocato Buono, der in der Region des öfte ren in Vermundschaftssachen tätig ist: „Die müssen ja zuerst adoptionswillige Eltern ausfindig machen, dann aber diese auch entsprechend befriedigen. Die zahlungswilligen Paare wollen sehr oft nur Kinder, deren Eltern ein bestimmtes Aussehen haben. Dann wollen viele heute auch einen AIDS–Test der Eltern, andere wieder Bestätigungen, daß Vater und Mutter nicht vorbestraft sind ... Alles ein Mordsaufwand ...“ Schuld trifft für all das natürlich auch den Gesetzgeber und die Bürokratie. Zehntausenden adoptionswilliger Eltern stehen mindestens ebensoviele „freigegebene“ Kinder gegenüber - aber sie kommen, wegen bürokratischer Verschleppung, nur selten zueinander. So haben sich in ganz Italien (mit Schwergewicht auf dem Süden) weitverzweigte Gangs gebildet, die dem Adoptionswillen zum Erfolg verhelfen - in Sibarri am ionischen Meer und in Torano Castello in den Abruzzen, in der Regionalhauptstadt Catanzaro und in einem Dutzend Gemeinden am Golf von Neapel und in Vororten von Rom. Maria Grazia gibt sich noch immer nicht zufrieden: „Ich kann mich über Babies auf Bestellung nicht so entsetzen wie ihr“, hält sie ihren ganz gegen die verhaftete Dauer–Baby–Lieferantin eingestellten männlichen Kollegen entgegen, „zumindest nicht, solange ihr nicht auch Babyproduktionen für andere Zwecke verurteilt“. So z. B. in einem eben bekanntgewordenen Fall im oberitalienischen Cremona, der die Medien sehr bewegt hat: Da hat ein Ehepaar ein zweites Kind gemacht - mit dem erklärten einzigen Ziel, ihrem an Leukämie erkrankten ersten Kind Knochenmark vom zweiten zu übertragen. „Babies als reine Organspender - welche Horrorvorstellung“, sagt Maria Grazia, „und: die Sterbegefahr für das Neue sind bei der Übertragung immerhin 25 Wegadoptierten doch wohl geringer, oder? Wo bleibt da die Ethik?“ Ja, wo bleibt sie?
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