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Kinderarbeit im EG–Land Portugal

■ In England oder Deutschland gilt sie als Erscheinung der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts / In Portugal, dem ärmsten Land Westeuropas, hat sie gerade in den letzten zwei Jahren erschreckend zugenommen - die Kinderarbeit / Zehn– bis 14jährige verlassen die Schule, um stattdessen für Hungerlöhne zu schuften / Diesen sozialpolitischen Skandal in einem EG–Land hat Portugals Linke vor den Parlamentswahlen am 19. Juli zu einem Wahlkampfthema gemacht

Aus Lissabon Sergio Rodrigues

„Mädchen zwischen 13 und 17 als Bedienung und Küchenhilfe gesucht. Telefon...“ So eine Zeitungsanzeige. Sie richtet sich an Kinder, die laut Gesetz noch gar nicht arbeiten dürfen. In Portugal besteht Schulpflicht bis zum sechsten Schul– oder 14. Lebensjahr. Die Beschäftigung von Kindern oder Jugendlichen unter 14 - für manche Arbeiten unter 16 Jahren - ist verboten. Dennoch ist Kinderarbeit gang und gäbe. Reihenweise werden Schulpflichtige für die Arbeit in Textil–, Bekleidungs–, Schuh– und Möbelfabriken, Bäckereien, Gaststätten, Hotels– und sogar am Bau angeheuert. Der Arbeitstag dauert von acht oder neun Uhr morgens bis sechs oder acht Uhr am Abend. Und wenn kurz nach 21 Uhr das portugiesische Fernsehen seine alltägliche Gutenachtgeschichte für Kinder bringt, sind andere Kinder auf dem Weg zur Nachtschicht. Angeworben werden viele über Aushänge in den Dörfern. In Einzelfällen sollen sogar Pfarrer in der Sonntagsmesse nicht nur fromme Glaubensgrundsätze, sondern auch „Stellenangebote“ für Schulkinder verkündet haben. Arbeitslose, die auf Arbeitssuche Fabriken abklappern, bekommen hingegen immer häufiger zu hören: Für Sie haben wir leider nichts, aber wenn Sie Kinder haben... 200.000 Kinder sollen es sein, die in Portugal illegal arbeiten. Und wenn das Arbeitsministerium in Lissabon diese Zahl auch anzweifelt (“eine Null weg, und das ist immer noch übertrieben), kann es doch die Existenz dieser Kinderarbeit nicht leugnen. Der Gewerkschaftsbund CGTP– Intersindical Braga, der wesentlich dazu beigetragen hat, den Skandal an die Öffentlichkeit zu bringen, hat allein in der 750.000 Einwohner–Stadt Braga 200 Betriebe entdeckt, die Kinder für sich schuften ließen. Mit zehn Jahren in die Fabrik Vitor do Vale von der CGTP Braga zeigt uns einige dieser Betriebe. Der erste, direkt an der Hauptstraße gelegen, hat kein Firmenschild, keine Neonreklame, keine LKW–Verladerampe. Niemand würde hier einen Industriebetrieb vermuten - doch im Erdgeschoß der Luxusvilla befindet sich eine Näherei mit 33 Beschäftigten - fast alles Mädchen und Frauen. „Ein Familienbetrieb“, sagt der Chef. „Wir stellen gerade Bademäntel her. Alles für den Export. Wohin? ... Keine Ahnung. Wir machen nur Lohnkonfektion für einen Großbetrieb.“ Ein Mädchen fragen wir, seit wann sie hier arbeitet. „Seit einem Jahr.“ Und ihr Alter? „l4... aber ich werde 15“, stammelt sie, als ihr Chef hinzukommt. Ihr Monatslohn? „16.000 Escudos“ (205 Mark). Ist sie krankenversichert? „Nicht daß ich wüßte.“ Ihr Chef: „Sie wird jetzt angemeldet.“ Der Chef des Mädchens ist vorsichtig geworden: Als kürzlich die Arbeitsinspektion im Betrieb war, mußte er 5.000 Escudos (64 Mark) Geldstrafe bezahlen. „Wir hatten eine, die erst in einem Monat 14 wurde ... aber das wußten wir doch gar nicht ...“ Als Ausbeuter will er nicht dastehen: „Ihr Journalisten solltet in die Diskotheken gehen und sehen, welchen Beruf dort die zwölfjährigen Mädchen erlernen - die Pro stitution ... Was wir hier tun, ist ein Werk der Mildtätigkeit, jawohl. Wir bringen den Mädchen einen Beruf bei, oft müssen wir aus einer Bäuerin erst einmal eine Näherin machen, und obendrein bringt sie Geld mit nach Hause ...“ Kurz vor Mittag sind wir am nächsten Betrieb, unmittelbar gegenüber einer Kirche. Als die Glocke zwölf schlägt, strömen Frauen und Mädchen aus der Textilfabrik, packen rings um die Kirche ihr Mittagessen aus. Ein Mädchen, das wir ansprechen, will weder Namen noch Alter preisgeben. Erst nach langem Zureden gibt sie zu, daß sie erst zwölf Jahre alt ist und seit zwei Jahren - damals hat sie die Schule verlassen - in der Fabrik arbeitet. Jeden Morgen wird sie, zusammen mit Kolleginnen, im 25 km entfernten Heimatdorf abgeholt und nach 18 Uhr wieder nach Hause gebracht. Monatslohn: 13.000 Escudos (167 Mark). Wer den Lohn bekommt? „Mein Vater ... Was der macht? Er ist zu Hause, arbeitet auf dem Feld .. Ich habe noch zehn Geschwister ...“ „Kinderarbeit gab es früher sicher auch schon“, meint Vitor do Vale von der CGTP Braga. „Sie hat in den letzten zwei Jahren aber enorm zugenommen, und das hängt mit den Lebensbedingungen in unserem Bezirk zusammen. Im Bezirk Braga haben wir 45.000 Arbeitslose, darunter 27.000 Jugendliche, außerdem rund 10.000 Arbeiter, die ihre Löhne nicht pünktlich bekommen ... Oft haben wir dann die Situation, daß schulpflichtige Kinder für den Lebensunterhalt der Familien arbeiten gehen. In unserem Distrikt kommen 19 Prozent aller Kinder ihrer sechsjährigen Schulpflicht nicht nach. Das Bildungsministerium müßte einmal die Gründe hierfür untersuchen. Wir meinen, wenn die Familien kein Mindesteinkommen haben, bleibt den Vätern kaum eine Alternative als ihre Kinder arbeiten zu lassen.“ Wer sein Kind für 13.000 oder 16.000 Escudos im Monat unterbringen kann, ist noch gut bedient. Viele Kinder erhalten nur lächerlich niedrige „Löhne“ zwischen 4.000 und 7.000 Escudos (15 bis 90 Mark) - Bruchteile des staatlich festgelegten Mindestlohnes von umgerechnet 324 Mark. Sichere Arbeitsplätze können die Kinder jedoch kaum erwarten. Wenn sie 16 oder 18 werden, sitzen sie oft auf der Straße und werden in der Arbeitslosenstatistik womöglich als „Jugendliche auf der Suche nach der ersten Arbeitsstelle“ registriert. Nach Ansicht der CGTP Braga fehlt seitens der Regierung der politische Wille, das Problem Kinderarbeit anzugehen. „Und das Vertrauen in die Behörden“, sagt Vitor do Vale, „haben wir verloren. Es wird ein Bußgeld verhängt, aber das Kind bleibt im Betrieb.“ 50.000 Escudos (640 Mark) beträgt die gesetzliche Höchststrafe für Kinderausbeuter - die aber längst nicht immer verhängt wird. Vitor do Vale erzählt von einem Textilbetrieb, wo unter 139 Beschäftigten 38 Kinder entdeckt wurden. Strafe: 6.250 Escudos (80 Mark).

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