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Die blutrünstige Invasion

■ Milliarden von Schnaken piesacken die Bewohner entlang des Rheins / Von Thomas Scheuer

Das „Schnogeloch“ im Freiburger Westen gilt all jenen als erste Adresse, die es an einem lauen Sommerabend nach einem saftigen Steak in einer gemütlichen Gartenwirtschaft gelüstet. Ist es schön schwül, verkünden jedoch bald vereinzelte Schmerzrufe, Fuchtelgymnastik und Klatschgeräusche, daß die menschlichen Feinschmecker keineswegs das letzte Glied der Nahrungskette bilden: Stechmücken greifen an! Die allsommerlichen Schnakenschwärme - die „Schnoge“, wie sie die badisch–elsässische Zunge nennt - sie gehören zum Rheintal wie der Eisbär zum Nordpol. Das alte Volkslied vom „Hans im Schnogeloch“, einem schrägen Wirt, der nie wollte was er hatte, aber immer wollte was er nicht hatte, gilt als die heimliche Nationalhymne der Elsässer. Schon Straßburg–Fan Goethe hatte, als er dereinst mit Freundin Friederike Brion im Unterholz der Rheinauen scharwänzelte, sein liebes Leid mit der Plage aus der Luft, die er für die „unerträgliche Störung einer der schönsten Lustpartien“ verantwortlich machte, „wo sonst alles glückte!“ Doch heuer jagen die blutgierigen Lästlinge der „culex spezies“ nicht nur vereinzelt Liebespärchen in die Flucht: Als in Bingen am Rhein vor drei Wochen der alljährliche „Feuerzauber im Rhein“, ein von Rheinschiffen gestartetes Feuerwerk, in die linde Samstagabendluft ging, war es für viele mit dem Zauber rasch vorbei. In Scharen, so ein Teilnehmer, seien die Gäste vor den wolkenartig einfallenden Stechmücken geflüchtet. „Abends können Sie bei uns zur Zeit nicht mehr auf der Terasse sitzen“, klagt ein Mitarbeiter des Landratsamtes im badischen Rastatt. Bei seinem hessischen Amtskollegen im Landratsamt Groß–Gerau lassen gepeinigte Bürger das Telefon nicht mehr zur Ruhe kommen: Mütter klagen über gepiesackte Kleinkinder; Landwirte müssen die von Stichen geschwollenen Euter ihrer Kühe einsalben. In der Postapotheke in Rastatt erwische ich die vorletzte Pulle „Autan“ - der Apotheker jammert über Lieferschwierigkeiten. Die Glatze des Wasserwirtschaftsbeamten, der in den Rheinauen regelmäßig die Pegelstände mißt, hat sich der Oberflächenstruktur eines Streuselkuchens angeglichen. Grund für die außergewöhn liche Schnakenplage in diesem Jahr ist das anhaltende Hochwasser auf dem Rhein infolge starker Regenfälle und spät einsetzender Schneeschmelze in den Alpen. Die Pegelstände liegen drei bis vier Meter über normal. Äcker und Wiesen stehen seit Wochen unter Wasser, auch manches Fußballfeld in Flußnähe geriet zum Feuchtbiotop. Die Überschwemmungsgebiete in den Rheinniederungen haben „der Brut ein Jahrhundertjahr“ beschert, erklären die Schnakenexperten von der „Kommunalen Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage“ (KABS). Etwa 100 Gemeinden, Städte und Landkreise gehören der KABS im zehnten Jahr ihres Bestehens an. In den vergangenen Jahren konnten gebietsweise bis zu 95 Prozent der Schnakenbrut rechtzeitig vernichtet werden. Doch in diesem Sommer müsse man womöglich „bald die Segel streichen“, befürchtet Norbert Becker, wissenschaftlicher Leiter in der KABS– Zentrale in Ludwigshafen, sollten die Überschwemmmungen auf den Feldern längs des Rheins nicht bald zurückgehen und austrocknen. Einen Kredit in Höhe von 500.000 Mark beschloß die KABS aufzunehmen, nachdem sie ihren gesamten Jahresetat von 1,1 Millionen Mark bereits „verpulvert“ hat. Schon prägt militärische Terminologie die Mücken–Debatte: Von der „Schnakenfront“ in der „grünen Hölle“ der Rheinauewälder ist die Rede. Auf mindestens 50 Milliarden Insekten schätzen Fachleute das blutgierige „Milliarden–Heer“ allein im Operationsgebiet der KABS. Wahrscheinlich sind es mehr. In einem einzigen Liter Wasser werden schon mal über 1.000 Mückenlarven gezählt. Verheerend auch das Ergebnis der sogenannten Anflugproben: Bei diesen kombinierten Mensch–Tier–Versuchen bieten sich freiwillige Testpersonen eine Minute lang den Stechmücken als Landeplatz an. Dann wird ein feines Moskitonetz über den Tester gestülpt, die Insekten werden abgesaugt und gezählt. 1.000 „Anflüge“ pro Minute sind für die Experten diesen Sommer keine Sensation mehr! Im Bekämpfungsgebiet der KABS konnte die Anflug–Frequenz in den vergangenen Jahren von normalerweise knapp 100 auf fünf bis zehn pro Minute gedrückt werden. Als lästige Blutsauger werden übrigens ausschließlich die Weibchen der Schnaken aktiv. Während sich die Männchen als konsequente Vegetarier ausschließlich an pflanzlichen Säften laben, macht der Drang zur Fortpflanzung die Weibchen zum Vamp: Sie brauchen unser Bluteiweiß zum Aufbau ihrer Eier. Diese deponieren die „temporären Ecto– Parasiten“, wie die Wissenschaft sie vornehm klassifiziert, im feuchten Gelände. In Überschwemmungsgebieten, wo ihnen weder Strömungen noch natürliche Feinde, wie etwa Fische, drohen, entwickeln sich die Larven hervorragend - ebenso wie in Regentonnen oder den badewannengroßen Mini–Feuchtbiotopen hinterm Haus, die unter großstädtischen Naturfreunden neuerdings in Mode kommen. In knapp zehn Tagen verläuft bei günstigen Temperaturen die vollständige Metamorphose vom Ei über Larve und Verpuppung zur fertigen Mücke, erklärt Prof. Hecker, Parasitologe am Schweizerischen Tropen–Institut in Basel. Die organisierte Schnakenbekämpfung zielt auf die Larven. Ist die Zeit reif, rückt alljährlich die „studentische Schnaken–Wehr“, wie die Studenten genannt werden, die als Nebenjob die Rückenspritze aufschnallen, in die Rheinauen aus; größere Wasserflächen werden per Hubschrauber bestäubt. Nachdem man ganz früher die Chemiekeule schwang, später mit künstlichen Ölfilmen auf den Gewässern die Larven - und alles andere Getier - zu ersticken suchte, zeitweise gar durch Bestrahlung die Mücken kastrieren wollte, wird heute ein biologisches Mittel eingesetzt. Der „Bacillus thuringiensis israeliensis“ (BTI), ein Eiweißkristall, wird von den Larven aufgenommen und bildet in Reaktion mit deren Magensäften ein Gift, das die Magenwände zerstört. Normalerweise kommt die KABS mit 1,5 Tonnen BTI–Granulat pro Jahr aus. Dieses Jahr wurden schon drei Tonnen verpulvert, weshalb, so Norbert Becker, „jetzt auch unsere Kriegskasse leer ist“. Auf rund 1 Mark pro Kopf belaufen sich im Schnitt die Kosten des Abwehrkampfes. Fürsprecher fanden die stechenden Biester in Kreisen der Naturschützer, vornehmlich im Rastatter Auen–Institut der renommierten Umweltstiftung „World Wildlife Fund“, das in den blutrünstigen Insekten „einen wesentlichen Teil der Vielfalt der Lebensgemeinschaften“ in den letzten naturnahen Auen ausmachte. Die WWF–Leute kritisieren, daß auch das ansonsten „extrem selektiv wirkende“ BTI keinen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Larven sowie zwischen Stech– und anderen Mückenarten mache. So werde beispielsweise die ökologisch wertvolle, aber harmlose Zuckmücke mit dahingerafft. Auch Berufs– und Hobbyfischer sehen die Schnakenbekämpfer ungern, da diese das Lebendfutter für die Fische dezimieren. Die Schnaken– Gegner halten dagegen: Auf überschwemmten Maisfeldern und Sportplätzen gäbe es keine Fische; sowieso habe der Fischbestand schließlich auch mückenarme Jahre überlebt. Und in seiner Diplomarbeit weist ein Heidelberger Zoologiestudent auch der lieben Zuckmücken–Larve Überlebenschancen nach: Sie umzubringen braucht die 40–fache BTI–Dosis, die gegen Stechmücken–Larven gesprüht wird. Der Konflikt wurde wohl von manchen Medien etwas hochgespielt. Nach einem längeren Telefongespräch zwischen KABS– und WWF–Experten Mitte dieser Woche, erklärte ein WWF–Mitarbeiter der taz, selbstverständlich lehne der WWF die Schnakenbekämpfung nicht generell ab. Gefordert wird aber der BTI–Verzicht in Naturschutzgebieten; dies nicht zuletzt, weil Spritz–Trupps und Helikopter dort brütende Vögel und anderes Getier nervten. Genau darum geht derzeit der Streit. Besonders eklatant ist die Schnakenplage nämlich im hessischen Ried. Dort hat eine Schnaken–Sonderkonferenz von Bürgermeistern und Landräten nach KABS–Vorbild eine regionale Aktionsgemeinschaft gegründet, die jetzt die hessischen Naturschutzgebiete ins Visier nimmt. Während unter rot–grüner Herrschaft nämlich die Parasiten ein herrliches Leben fristeten, weil dort jede Bekämpfung verboten war, wollen die CDU–Regenten den BTI–Großangriff auf die Reservate zulassen. Täglich erwartet das Landratsamt Groß–Gerau aus Wiesbaden grünes Licht für die BTI–Offensive in der Kühkopf– Knoblochs–Aue, Hessens größtem Naturschutzgebiet - zugleich Schnakenbrutstätte Nummer eins. Einstweilen können die Bürger im Kreis Groß–Gerau in den Rathäusern gratis mit BTI– Briketts für den individuellen Abwehrkampf aufmunitionieren. Indes verkündet „Schnogeloch“– Wirt Ingo Henseler unverdrossen seinen Leitspruch: „Einmal in der Woch muß der Mensch ins Schnogeloch.“

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