Ein Jahrmarkt für die Friedensbewegungen

■ Auf der „6. Konvention für europäische nukleare Abrüstung“ im britischen Coventry versucht die Friedensbewegung, vom sturen Raketenzählen abzukommen / Schwierigkeiten mit nur halboffenem Glasnost / Streitigkeiten um Ostblock–Gruppen

Aus Coventry Rolf Paasch

Die Tür des Aufzugs im Studentenheim an der Universität von Coventry öffnet sich und drei junge Männer treten auf den langen Korridor. In der Hand tragen sie eine Mini–Fregatte, einen Plastik–Panzer sowie einen naturgetreu nachgebastelten Phantom– Bomber der US–Armee. „An eurer Stelle würde ich mir eine Plastiktüte besorgen, hier im Haus tagt die Konvention zur nuklearen Abrüstung der Friedensbewegung“, rät ihnen ein freundlicher Konferenzteilnehmer. „Was für eine Friedensbewegung?“, fragt einer der Spielzeug–Militaristen etwas hilflos. „Nukleare Abrüstung“, so kommt ihm sein Kollege schlagfertig zur Hilfe. „Wir spielen ja nur mit konventionellen Waffen, das seht ihr doch.“ Besser hätte sich die Thematik der viertägigen Konvention der Bewegung für die europäische Abrüstung (END) nicht umreißen lassen, zu der sich in der vergangenen Woche knapp 1.000 Anhänger der internationalen Friedensbewegungen aus über 30 Ländern in Mittelengland versammelt hatten; denn die Friedensbewegung ist in diesen Tagen der offiziellen Abrüstungseuphorie auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis. Gerade in diesem Jahr hatte sich die Konzentration auf das sture Zählen von Atomsprengköpfen als überholt erwiesen. „Der Jahrmarkt der Friedensideen“, so Albert Statz von der 20köpfigen Delegation der bundesdeutschen Grünen, ist in seinem sechsten Jahr für viele Friedensaktivisten bereits fast zur Routine geworden. Man kennt sich von den END–Treffen aus Berlin und Perugia oder vom letzten Friedenskongreß in Moskau und nutzt die Gelegenheit wieder begierig zum internationalen Er fahrungsaustausch über Protestformen vor den Militärbasen des Westens, über den Aufbau von informellen Netzwerken und über die Schwierigkeiten bei der Popularisierung eigener Positionen. Das Programm aus Filmen, Kulturveranstaltungen, Workshops und Podiumsdiskussionen reichte von den „Feindbildern in der Populärkultur“ bis hin zum „Mythos nationaler Souveränität; von Polen über die Pazifischen Inseln bis hin zur Friedensbewegung in Südafrika; von Tschernobyl zu SDI, von Glasnost bis zur „Entspannung von unten“. Während auf den Podiumsveranstaltungen meist männliche Rüstungsexperten über die gegenwärtigen Veränderungen im System der atomaren Bedrohung räsonierten, berichteten Frauen von den Inseln des Pazifik bereits von den katastropha len Auswirkungen jahrzehntelanger Atomwaffenversuche auf ihr Leben und das ihrer Kinder. In weiten Teilen der Diskussionen entstand der Eindruck, die Friedensbewegung wisse nicht, wie sie mit ihrem eigenen Erfolg umgehen solle. Denn die Fortschritte bei den Abrüstungsverhandlungen, so der britische Historiker Edward P. Thompson den Versammelten auf der Abschlußveranstaltung am Samstag, sei zu großen Teilen „ein Verdienst der Friedensbewegung“. Doch derartige Erfolge nützen gegenwärtig niemandem, denn eine solche Sprachlosigkeit wie bei den jüngsten politischen Auseinandersetzungen um die doppelte Nullösung darf sie sich, darüber war man sich in Coventry weitgehend einig, weder bei den abzusehenden Aufrüstungsbemü hungen im konventionellen Bereich noch bei der bereits einsetzenden „Mitteleuropäischen– Diskussion“ leisten. So war denn auch die noch recht unbeholfene Suche nach gemeinsamen Wurzeln der ost– und west europäischen Friedensbewegungen nach einer „europäischen Identität“ einer der interessantesten Aspekte der Konvention. Das Verlassen jahrzehntealter geographischer Beschränkungen, so wurde in vielen Veranstaltungen deutlich, wird auch mit einer Erweiterung der Abrüstungsthematik einhergehen müssen. Es gebe hier „einen neuen Markt für die außenpolitische Diskussion“, so formulierte es der friedensbewegte Brüssel–Korrespondent des Guardian, John Palmer, in der Sprache des Thatcher–Zeitalters, auf dem auch die Friedensbewegung auftreten müsse. Welche Schwierigkeiten die Friedensbewegung mit den sich verändernden geopolitischen Rahmenbedingungen und ihrem Verhältnis zu den Supermächten hat, wurde auch an einem anderen Punkt deutlich. Die allgemeine Euphorie über Glasnost, das ja so wunderbar in die Programmatik der END– Konvention mit ihrem Anliegen einer verstärkten friedenspolitischen Zusammenarbeit zwischen Ost und West paßt, erhielt in Coventry einen erheblichen Dämpfer; denn allzu lang war wieder einmal die Liste der unabhängigen Friedensgruppen, deren Mitgliedern die Ausreise nach Coventry verwehrt wurde. So entwickelte sich der Umgang mit den anwesenden offiziellen Friedenskomitees aus der UdSSR, Polen und der Tschechoslowakei im Verlauf des Treffens zur Gretchenfrage - und zum Hauptstreitpunkt im ausrichtenden internationalen Liaison– Komitee des END. Während sich Mitglieder der britischen Labour Partei und der „Kampagne für nukleare Abrüstung“ sowie kommunistisch oder sozialdemokratisch orientierte Friedensbewegte aus den anderen westlichen Ländern mit den vom Ostblock angebotenen Delegationen abfinden wollten, begann für Teile der Grünen und andere unabhängige Friedensgruppen der Kampf für eine „zivile Gesellschaft“ oder die „Entspannung von unten“ beim Teilnahmerecht unabhängiger Friedensgruppen aus dem Ostblock. Die eingangs von den Militär– Spielzeug–Enthusiasten naiv gestellte Frage „Was für eine Friedensbewegung?“ war als Frage nach dem eigenen Selbstverständnis der Bewegung nach den viertägigen Diskussionden vielleicht noch angemessener als vorher.