piwik no script img

I N T E R V I E W Dem Erwartungsdruck begegnen

■ Der Leiter der Ost–West–Redaktion des Deutschland–Funks Karl Wilhelm Fricke zur Amnestie

taz: Herr Fricke, die Ankündigung einer umfassenden Amnestie in der DDR hat nicht nur in der westlichen Öffentlichkeit überrascht. Was sind denn die Erfahrungen mit den vorausgehenden Amnestien in den DDR? Fricke: In der DDR gab es im Ganzen schon sechs Amnestien für Gefangene, die jeweils zu den Jahrestagen der Staatsgründung ausgerufen wurden. Die bisher wichtigste war die von 1972, bei der über 25.000 Gefangene freikamen. Auch bei der jetzigen rechne ich mit Freilassungen in dieser Größenordnung. Der Anteil der politischen Gefangenen liegt etwa bei 10 bis 15 Prozent, was einer Anzahl von 1.500 bis 2.000 entspricht. Gibt es eine neue Qualität, unterscheidet sich die jetzige Amnestie von den vorausgegangenen? Eine solche neue Qualität vermag ich bisher noch nicht zu erkennen, wenn man die Amnestie für sich nimmt. Allerdings, und dies muß anerkannt werden, ist mit der Abschaffung der Todesstrafe und der Einrichtung einer Berufungsmöglichkeit beim Obersten Gericht für die DDR ein neuer Schritt gemacht worden. Im Hinblick auf die Abschaffung der Todesstrafe ist nun die DDR als erstes Ostblockland anderen Ländern vorausgegangen. Wie kann man die Ausnahmeregelungen bewerten, was bedeutet heute „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in der DDR? Welche besonderen Kontrollmöglichkeiten hält sich der Staat gegenüber den Amnestierten weiterhin offen? Bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt es sich um Personen, die vor dem 8. Mai 1945 als Nazis oder Kriegsverbrecher angesehen werden. Es gibt auch nach dem Strafgesetzbuch von 1968 die Möglichkeit, daß die auf westlicher Seite in Vietnam, Angola oder Nicaragua kämpfenden Söldner bestraft werden. Doch solche Leute spielen heute kaum eine Rolle. Weiterbestehen werden nach den Erfahrungen mit den anderen Amnestien Kontrollmaßnahmen gegen „Asoziale“. So gibt es Möglichkeiten, resozialisierungsgefährdete Personen mit besonderen Auflagen zu versehen, wie das regelmäßige Melden bei der Polizei, Aufenthaltsbeschränkungen oder die Auflage, in einem bestimmten Betrieb arbeiten zu müssen. Jugendlichen können bestimmte Diskotheken verboten werden. Es besteht auch die Möglichkeit, nur einen behelfsmäßigen Ausweis auszustellen, den PM 12, so daß bei jeder Kontrolle auf die Person zurückgeschlossen werden kann. Schwierigkeiten wird es weniger bei der Arbeitsvermittlung als vielmehr bei der Wohnungsbeschaffung geben. Die politischen Amnestierten werden auch weiter mit vielerlei behördlichen Diskriminierungen rechnen müssen. Ist es vorstellbar, daß nun viele dieser Entlassenen in die Bundesrepublik ausreisen dürfen, bzw. „freigekauft“ werden? Auch bei den bisherigen Amnestien kann man nicht von Häftlingsfreikauf sprechen. Der Entlassung nach dem Westen geht bei derartigen Fällen in der Regel ein individueller Gnadenakt oder eine bedingte Strafaussetzung voraus. Bei den Amnestierten handelt es sich um den „Verzicht des Staates auf Strafverwirklichung“. Amnestierte können im Rahmen der Familienzusammenführung und einer legalen Ausreise in den Westen gelangen. Mit „Häftlingsfreikauf“ hat das aber nichts zu tun. Wie bewerten Sie die Amnestie politisch? Sicher kann man diese Amnestie als ein Signal an die Adresse Bonns im Vorfeld des Honeckerbesuchs verstehen. Vor allem aber es ist ein Zeichen nach innen, um einem politischen Erwartungsdruck entgegenzukommen. Denn mit Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion sind Erwartungen für eine Erneuerung in der DDR entstanden. Man darf also nicht außer acht lassen, daß diese Amnestie, die Abschaffung der Todesstrafe und die künftigen Möglichkeiten von Berufungsverfahren indirekte Auswirkungen des Kurses von Gorbatschow in der Sowjetuinmon darstellen. Interview Erich Rathfelder

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen