: Krebsvorsorge ade?
■ Wissenschaftler–Kommission strebt Neubewertung krebserzeugender Stoffe an / Grüne und AL–Berlin sehen Gesundheitsvorsorge pervertiert
Von Andreas Wertz
Berlin (taz) - Wird eine große Anzahl krebsgefährlicher Stoffe künftig in ihrer gesundheitlichen Bewertung heruntergestuft? Der Vorsitzende der sogenannten MAK–Werte–Kommission, Prof. Henschler, hat eine neue Klassifi zierung krebserregender Stoffe mit weitgehenden Konsequenzen in einem Brief an den Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, Großklaus, angekündigt. Der Brief datiert vom 1.Juni 87 und wurde jetzt der AL in Berlin zugespielt. Wie Henschler schreibt, wird bereits seit zwei Jahren an dieser neuen Klassifizierung gearbeitet. Kernpunkt der Neubewertung ist die Einrichtung einer neuen Gruppe von krebsgefährlichen Stoffen, die zwar im Tierversuch Krebs erzeugt haben, aber bei Menschen nicht krebserregend sein sollen. Fortsetzung auf Seite 2 Diese Stoffe würden nur im Tierversuch unter „extremen Bedingungen“ (d.h. bei einer hohen Dosis) Krebs auslösen, denen der Mensch in der Regel nicht ausgesetzt ist, argumentieren die Befürworter der Neu–Klassifizierung. Bisher werden krebsgefährliche Stoffe in der MAK–Liste nach drei Gruppen unterschieden: beim Menschen krebserzeugend (A 1), im Tierversuch krebserzeugend (A 2) und als krebsverdächtig (B). Bei Stoffen, die im Tierversuch Krebs auslösen, wird davon ausgegangen, daß dieser „unter für den Menschen vergleichbaren Bedingungen“ geschieht. Weder für die Stoffe A 1 noch für die der Gruppe A 2 wird ein Grenzwert am Arbeitsplatz (MAK) angegeben, weil selbst geringste Mengen dieser Stoffe schon als gesundheitsschädlich angesehen werden. Genau diese Vorsorgepolitik würde künftig entfallen: Für die neue Gruppe von Stoffen könnten dann Grenzwerte und Sicherheitsauflagen nach Belieben festgesetzt werden. „Einer der aussichtsreichen Kandidaten für eine solche Gruppe“ wäre, so Henschler, das Lösungsmittel Perchlorethylen (PER), das unter anderem in chemischen Reinigungen verwendet und in letzter Zeit häufig in Lebensmitteln gefunden wird. Das BGA hatte im Februar der Bundesregierung empfohlen, PER wegen seiner krebserzeugenden Eigenschaften aus dem Verkehr zu ziehen. Dazu schreibt Henschler nun, er würde „empfehlen, Entscheidungen im BGA im Hinblick auf eindeutige Bewertung von Tetrachlorethen (wiss. Bezeichnung für PER, Anm. d. Red.) als krebserzeugend zurückzustellen“. Nach Meinung der AL–Fraktion Berlin und der Bundestagsabgeordneten der Grünen, Charlotte Garbe, ist diese Empfehlung Henschlers ein „Maulkorb“ für das BGA. Der Bundesregierung werde dadurch ein Alibi geschaffen, „in Untätigkeit zu verharren“ statt „drastisch erhöhte Sicherheitsforderungen“ für die Verwendung von PER festzulegen. Die beabsichtigte Neuklassifizierung krebsgefährlicher Stoffe sei dem Grundsatz der Gesundheitsvorsorge genau entgegengesetzt, schreiben AL und Grüne in einer gemeinsamen Presseerklärung. Darin heißt es weiter: „Der MAK–Kommission gehören zu einem Drittel Industrievertreter an, ungefähr die Hälfte der beteiligten arbeitsmedizinischen Institute ist als industriefreundlich einzustufen.“ Von der Kommission seien daher „keine Entscheidungen zu erwarten, die sich am Gesundheitsschutz der Bevölkerung orientieren“.
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