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Keine Zensur auf Nicaraguas Buchfestival

■ Propagandaservice der US–Botschaft durfte sogar einen eigenen Stand einrichten / Nach der Alphabetisierungskampagne gibt es immensen Hunger nach Literatur / 25.000 Titel aus 43 Ländern, darunter Prachtbände aus der UdSSR und Untergrundliteratur aus Chile

Aus Managua Ralf Leonard

Managua stand eine Woche lang im Zeichen der Kultur. Im Anschluß an die Feierlichkeiten zum Revolutionsjubiläum wurde hier das erste Buchfestival eröffnet, das rund 25.000 Titel aus 43 Ländern und 350 Verlagen ins Land brachte. Das Motto: „Das Buch - Fenster zur Welt“. Ein derartiges Angebot an Literatur hatte dieses kleine Land, das in seiner Geschichte kaum 500 Bücher produziert hat - davon die Hälfte seit der Revolution - noch nie gesehen. Die Nicaraguaner konnten Kinderbücher aus China, Belletristik aus beiden deutschen Staaten, Prachtbände aus der Sowjetunion und Untergrundliteratur aus Chile nicht nur betrachten, sondern auch anfassen. Verkauft wird allerdings kaum etwas, denn von wenigen Titeln wurden mehr als die zwei Exemplare mitgebracht, die am Ende des Festivals der Nationalbibliothek gestiftet werden. Der Propagandaservice der US–Botschaft (USIS), der einen eigenen Stand einrichten durfte, verteilt allerdings gratis anti–sandinistische Literatur und die Memoiren des kubanischen CIA– Agenten Armando Valladares, der in Castros Kerkern plötzlich zum „Dichter“ wurde. „Hoffentlich nehmen die ausländischen Agenturen Notiz davon, daß hier keinerlei Zensur besteht“, mahnte Kulturminister Ernesto Cardenal in seiner Eröffnungsansprache. Auch Präsident Ortega - wie alle Nicaraguaner ein Dichter in stillen Stunden - interessierte sich für die Schriften der abgesprungenen Ex–Sandinisten. „Nicaragua: Geschichte eines Verrats“, heißt eine. „Der Autor war Geschäftsträger in Bogota“, erinnerte sich Vizepräsident Sergio Ramirez, „bis er sich eines Tages mit der Kasse davonmachte.“ Bei den progressiven Verlagen aus den USA herrschte weit weniger Andrang, denn mit Problemen der Selbstfindung und Lesbenrechten können die Nicaraguaner wenig anfangen. Pluralismus total herrschte auch am Kiosk der Bundesrepublik (gleich neben der So wjetunion), wo „Nicaragua: das blutende Herz Amerikas“, das infame Pamphlet des Kölner Staatsrechtlers Martin Kriele, zwischen Bänden der engagierten Theologen Norbert Greinacher und Dorothee Sölle aufgestellt wurde. Der Nicaragua–Menschenrechtsbericht des CSU–nahen Mundis– Verlages fand sich neben einer Einführung in die feministische Theologie wieder. Der Stand Ecuadors wurde mit einem Tag Verspätung eröffnet, da die Bücher in Costa Rica hängengeblieben waren. Die Basken nahmen fast die Hälfte des Spanien–Kiosks ein und wollten sogar eine Wand zwischen ihrer Euskadi–Literatur und der Abteilung der spanischen Botschaft errichten. Der Botschafter, der diesen demonstrativen Separatismus nicht dulden wollte, rettete durch seine Intervention die Einheit der Nation. Über das Übergewicht von Frauen im Organisationskomitee beklagten sich die Iranis, die ihren Büchertisch zu einer Propagandaplattform für fundamentalistische Lehre und gegen den Kriegs gegner Irak machten: mit riesenhaften Farbfotos schauderhaft verstümmelter und verätzter Bombenopfer. Rene Böll, Sohn des Nobelpreisträgers und Erbe des LAMUV–Verlags, saß vor ein paar abgegriffenen Bänden seines Verlages, die er sich in der Eile zusammenleihen konnte, denn auch seine Kiste war nicht rechtzeitig angekommen. Auch sonst gab es auffällige Lücken: Wagenbach und FDCL, die zu Lateinamerika ja doch einiges zu sagen hätten, waren überhaupt nicht erschienen. Vermißt werden auch wichtige Verlage aus Lateinamerika, wie „Oveja Negra“ - der Verlag des Nobelpreisträgers Garcia Marquez - aus Kolumbien oder Siglo XXI aus Mexiko. Die Idee zu der Veranstaltung war vor zwei Jahren auf der Buchmesse in Frankfurt geboren worden. Buchmessen–Direktor Peter Weidhaas hatte Ernesto Cardenal von einer regelrechten Messe abgeraten. Weidhaas: „Dafür braucht man einen Markt, den es in Nicaragua nicht gibt.“ Das Ziel des Festivals ist daher auch nicht die Vermarktung, sondern der Kontakt zwischen Verlegern und Autoren aus verschiedenen Ländern, vor allem Lateinamerikas. Das devisenarme Nicaragua, das derzeit an die 50 Prozent des Bruttosozialproduktes in die Verteidigung stecken muß, kann sich den Import von Literatur nicht leisten. Allerdings haben die Alphabetisierungskampagne und, vielleicht mehr noch, der ständige Kontakt mit ausländischen Kulturen, den die Revolution gebracht haben, einen immensen Hunger nach Literatur geschaffen. Neue Titel, die in Nicaragua erscheinen, sind binnen weniger Monate vergriffen. Und wenn Verteidigungsminister Humberto Ortega nicht plötzlich eine Pressekonferenz zusammengetrommelt hätte, um zu melden, daß bei einem Contra–Kommando US–amerikanische Flugabwehrraketen neuesten Typs sichergestellt worden seien, hätte man für kurze Zeit vergessen können, daß gegen Nicaragua ein blutiger Zermürbungskrieg geführt wird.

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