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„Wir Hungener sind die Versuchskaninchen“

■ In das hessische Städtchen Hungen soll die verstrahlte Molke verschubt werden / Jetzt sind es schon 13.000 Tonnen / Der Bürger–Protest formiert sich / Bisher schon genug Ärger mit der Moha–Molkerei / Der Betrieb liegt in einem kinderreichen Wohngebiet

Aus Hungen Antje Friedrich

Als „Wiederaufarbeitungsanlage“ mag Wilfried Schmied (CDU), Bürgermeister von Hungen, die Molkerei „Moha“ nicht sehen. Doch die Molke, die sein Städtchen bei Gießen in die Schlagzeilen brachte, wüßte er lieber in Bayern. „Moha“, die Tochtergesellschaft der Stuttgarter „Intermilch“, hatte sich in den vergangenen Tagen bereiterklärt, das radioaktiv verstrahlte Molkepulver auf ihrem Gelände zu dekontaminieren. Bereits im vergangenen Jahr war das Pulver monatelang in Güterwaggons durch die Bundesrepublik gefahren worden, derzeit lagert es auf Bundeswehrgelände in Bayern und Niedersachsen. Das mit bis zu 6.000 Becquerel Cäsium pro Kilogramm belastete Material soll nun in der oberhessischen Trockenmilchfabrik zu Viehfutter „umgearbeitet“ werden. Dabei handelt es sich nicht, wie bisher angenommen, um 5.000, sondern nach neuesten Angaben bereits um 13.000 Tonnen. Dies erklärte Bernd Kreutschmann, Mitglied der Grünen im Hungener Magistrat, auf einer Pressekonferenz. Während Bürgermeister Schmied noch am Nachmittag keine Anzeichen für „Panikstimmung in der Bevölkerung“ feststellen konnte (“Anrufe hier im Rathaus können sie an fünf Fingern abzählen“), gründete sich bereits wenige Stunden später im Anschluß an eine Pressekonferenz der Grünen spontan eine Bürgerinitiative aus rund 30 besorgten Hungener Bürgerinnen und Bürgern. Grund für Unruhe gibt es ihrer Ansicht nach reichlich. Nach einem Großbrand in der Trockenmilchfabrik 1974, mehrfach aufgetretenen Schäden im Abwassersystem im Umfeld der „Moha“, gelegentlich übergelaufener Kläranlage sowie dem Salmonellenskandal im vergangenen Jahr sehen die Hungener „keinen Anlaß für Vertrauen“. Auch die mangelhafte Erprobung des von der Bundesregierung geplanten Verfahrens macht ihnen Sorgen: Mittels eines Ionenaustauschers wird dem in Wasser aufgelösten Molkepulver das radioaktive Cäsium entzogen. Der Versuch, der die Bundesregierung dazu bewogen hat, dieses Verfahren anzuwenden, lief über sechs Wochen und arbeitete mit 700 kg verstrahltem Material, also einem Bruchteil der Menge, die nun nach Hungen geschafft wird. Dazu der Grüne Bernd Kreutschmann: „Diese Dekontaminie rung ist ein Großversuch, die Hungener Bevölkerung ein Versuchskaninchen.“ Bereits jetzt wissen die Anwohner der Mohastraße ein Lied von dem täglichen Ärger mit der Molkerei zu singen: „Es gibt Tage, da kann man Bilder auf die Fensterscheiben malen, so dick liegt da der Milchpulverstaub drauf.“ über die Behauptung des Umweltministeriums, daß das Molkepulver „beim Entsacken zwar staubt, aber nicht strahlt“, kann man in Hungen nicht mal mehr lachen. Die Molkerei liegt in einem kinderreichen Wohngebiet. Bereits jetzt sagen Bürger: „Wenn das hier gemacht wird, ziehen wir weg.“ Das Argument der Betreiber, mit diesem Auftrag könnten rund 25 Arbeitsplätze erhalten werden, nennt Bernd Kreutschmann „fadenscheinig“, verweist auf die maximale Dauer von drei Jahren für diesen Auftrag und das erhöhte Krebsrisiko nicht nur für die Arbeiter. „In der Betriebsversammlung wurde fast so getan, als ob es sich um normales Milchpulver handeln würde. Dabei wird im selben Werk während all der Zeit der normale Molkereibetrieb weitergeführt.“ Selbst Bürgrmeister Schmied glaubt, daß „Pannen nie auszuschließen sind“. Er will aber zunächst Gespräche in Wiesbaden und Bonn abwarten und versichert der Bundesregierung seine Loyalität. Inzwischen sammeln die Hungener Bürger und Bürgerinnen bereits Unterschriften, diskutieren über Formen des Widerstandes und hoffen auf „einen Bürgermeister und ein Stadtparlament mit Zivilcourage“.

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