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Arbeitslager statt Ausstieg

■ Im Tschernobyl–Prozeß erhielten die drei Hauptangeklagten die Höchststrafe: Zehn Jahre

Tschernobyl (dpa/ap/taz) - Im Tschernobyl–Prozeß gegen sechs frühere Beamte und Techniker des Atomkraftwerks hat das Gericht gestern Urteile in einer Höhe bis zu zehn Jahren Arbeitslager verhängt. Die drei Hauptangeklagten, Werksdirektor Viktor Brukanow, Chefingenieur Nikolai Fomin und dessen Stellvertreter Anatoli Djatlow erhielten alle die Höchststrafe von zehn Jahren Arbeitslager. Die drei übrigen Angeklagten Rogoschkin, Kowalenko und Lauschkin wurden zu fünf beziehungsweise zwei Jahren Arbeitslager verurteilt. Die Urteile wurden mit „groben Verstößen gegen die Sicherheitsvorschriften“ begründet, mit „Pflichtvergessenheit“, „Fahrlässigkeit“ und „Amtsmißbrauch“. Die Angeklagten hätten den Tod zahlreicher Menschen verschuldet. Laut Urteilsbegründung wurde im Reaktorkomplex äußerst schlampig gearbeitet. Es habe viele Anzeichen für schlechtes Management gegeben. Die Disziplin sei schlecht gewesen: In den Schichten hätten die Mitarbeiter Karten und Domino gespielt oder ihre private Post erledigt. 71mal sei gegen die Sicherheit verstoßen worden. Brukanow habe am Unglückstag nach der Explosion die Schicht verlassen mit der Begründung, er sei krank, und die Arbeit anderen überlassen. Brukanow habe außerdem versäumt, die sofortige Evakuierung anzuordnen und einen Notplan in Kraft zu setzen. Menschen hätten sich in der von der radioaktiven Strahlung unmittelbar betroffenen und verbotenen Zone aufgehalten und seien sogar dorthin geschickt worden. Am Morgen nach dem Unfall seien 108 Menschen in Krankenhäuser gekommen, aber der leitende Ingenieur Lauschkin habe „die Desinformation der Behörden fortgesetzt“, hieß es in der Urteilsbegründung. Er habe „falsche Daten weitergegeben“. Das Gericht hatte während der Verhandlung 40 Zeugen gehört. Bei der Urteilsverkündung war der Saal überfüllt. Fernsehkameras übertrugen das Geschehen in andere Räume. Die sowjetischen Behörden hatten westlichen Fernsehteams und Korrespondenten nur am ersten Tag und zur Urteilsverkündung die Teilnahme gestattet. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar auf Seite 4 Drei Wochen lang hatte der Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden. Auch zur Urteilsverkündung waren nur etwa ein Dutzend ausländischer Journalisten zugelassen worden. Unbewegten Gesichts nahmen die Angeklagten die anderthalbstündige Urteilsbegründung auf. Lediglich der Angeklagte Fomin, der selbst mit radioaktiver Strahlung verseucht worden war und bis Ende April im Krankenhaus gelegen hatte, wischte sich immer wie der über die Stirn. Wegen ihm mußte der Prozeß um einen Monat auf den 7. Juli verschoben werden. Die Angeklagten hatten bereits am ersten Prozeßtag dem amtlichen Untersuchungsbericht widersprochen. Nicht menschliches Versagen, sondern Konstruktionsmängel am Reaktor und ein völlig ungenügend ausgebildetes Personal hatten sie für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Weitere Details dazu wurden nicht bekannt, weil die Presse in den folgenden Prozeßtagen ausgeschlossen war. Drei der Angeklagten bezeichneten sich selbst als unschuldig, die drei übrigen räumten eine Teilschuld ein. Der Tschernobyl–Prozeß wurde vom stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs der UdSSR, Raimond Brise, geleitet. Berufung gegen das Urteil kann nur beim Obersten Sowjet, dem Parlament der Sowjetunion, eingelegt werden. Schauplatz des Prozesses war das zum Gerichtsgebäude umfunktionierte Kulturhaus von Tschernobyl. Die Geisterstadt dient jetzt als Fernmelde–, Verkehrs– und Servicezentrum für die Entseuchungsmaßnahmen in der Gegend.

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