: Die neue Friedfertigkeit der Sowjetunion
■ Zielen Gorbatschows Abrüstungsvorschläge lediglich darauf ab, die NATO zu spalten und SDI zu verhindern? Oder beabsichtigt er mit seiner Politik der Umstrukturierung und Offenheit, den ins Wanken geratenen Großmachtstatus zu retten und im Modernisierungswettlauf mit den USA aufzuholen?
Von Klaus Segbers
Sowjetische Rüstungs– und Sicherheitspolitik wird derzeit von der Diskussion über die innere Reformpolitik dominiert. Gegenüber perestrojka führen die Vorgänge im Ausland zwar kein Schattendasein, aber sie stehen deutlich im Hintergrund. Im Bewußtsein der Sowjetbürger, der Wissenschaftler und offenbar Auch der Politiker spielen die Ereignisse jenseits der Grenze eine vergleichsweise kleine Rolle. Das große sowjetische Reformprojekt wird in Leningrad und Irkutsk, in Moskau und Wladiwostok gelingen oder scheitern, nicht in Peking, in Moskau, Tokio oder Bonn. Was nicht heißt, daß es dort nicht behindert werden könnte. Auch systematisch ist die Vorrangstellung der Binnenreformen plausibel. Ohne eine modernisierte Ökonomie gerät der Weltmachtstatuts der UdSSR in Gefahr. Diese zu Beginn der 80er Jahre festgestellte Tendenz hatte entscheidend zu dem Versuch beigetragen, die Entwicklungsblockaden durch einen Austausch der Machtelite und durch den Anstoß des Reformprojekts zu überwinden. Auch aus einem weiteren Grunde noch hat die heimische perestrojka Vorrang vor der neuen Außenpolitik: Die SDI–Pro gramme der USA sind nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, militärisch begründet. Sie enthalten wesentliche „zivile“ Elemente, vor allem im Bereich der Technologiekonkurrenz auch innerhalb des Westens. Insoweit handelte es sich bei der auf Erneuerung zielenden sowjetischen Reformpolitik um ein zwar anders profiliertes, aber paralleles, konkurrierendes Unternehmen. Beide Weltmächte befinden sich in einem umfassenden Modernisierungswettbewerb. Und der wird in erster Linie dadurch entschieden, wie zukunftstüchtig, wie attraktiv und wie sozialverträglich die inneren Verhältnisse gestaltet werden. Frontbegradigung Welche Bedeutung hat nun die aufsehenerregende neue Beweglichkeit des Kreml im Bereich der Außen– und Sicherheitspolitik? Handelt es sich um Kosmetik, die nicht viel kostet, oder zeichnen sich wesentliche Positionsveränderungen ab? Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich in Moskau eine neue Sicht der Welt her auszubilden beginnt. Der sich verschärfende Zielkonflikt zwischen den gleichermaßen für wichtig erachteten Aufgabenbereichen Erneuerung der überalteten Industrieanlagen, Hebung des Lebensniveaus, Mithalten in der Rüstungskonkurrenz und Bedienung der Weltmachtfolgekosten zum Beispiel für den Krieg in Afghanistan erfordert weitreichende Entscheidungen für die Umstrukturierung der Rüstungsausgaben. Das weltweite Engagement der zweiten Weltmacht erwies sich bei der sich nun durchsetzenden realistischen Betrachtung als Überanstrengung. Es begannen theoretische Lockerungen, denen praktische Entlastungen folgten. Die Sicht auf die Welt normalisierte sich, die hohe Komplexität der gegebenen internationalen Beziehungen wurde anerkannt, die eigene Rolle neu bewertet. Auf den Gebieten der Rüstungsbegrenzung, der Wirtschaftshilfe für Verbündete in Europa und in der Dritten Welt, der Beziehungen zur Volksrepublik China und in anderen Bereichen folgten Frontbegradigungen, die teilweise den Charakter einer Revision früherer Positionen annehmen. Auch wenn dieser Prozeß nicht widerspruchsfrei verläuft und sich in Machtelite und Gesellschaft noch nicht voll durchgesetzt hat, so scheint er doch nicht nur der sowjetischen Krise und der Umbaustrategie angemessen, sondern im Grundsatz auch unumkehrbar zu sein. Die Gewährleistung von Sicherheit, so sagen die wichtigsten sowjetischen Politiker und Experten, nicht aber alle Militärs, sei eine Frage des Menschheits–, nicht eines engen Klasseninteresses. Sicherheit wird als politische, nicht mehr als militärische Aufgabe begriffen. Sie könne nur gemeinsam mit anderen Staaten, nicht einzeln und blockweise garantiert werden. So ist es folgerichtig, daß seit einiger Zeit auch in der SU der Begriff der Sicherheitspartnerschaft aufgegriffen wird. Westdeutsche Sozialdemokraten sind gerngesehene Gäste, mit denen blockübergreifende Interessen und sicherheitspolitische Konzepte durchdacht werden. Aber auch konservative NATO– Politiker werden in entsprechende Diskussionen verwickelt. Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit Im Rahmen dieses neuen veränderte Rüstungspolitik übersetzt haben. Doch würden solche praktischen Konsequenzen wegen der Trägheit gerade der sowjetischen Rüstungspolitik einige Zeit erfordern - sie sind frühestens für den nächsten, 13. Fünfjahresplan ab 1991 zu erwarten. Daß die alten, schon Anfang des Jahrzehnts beschlossenen Rüstungsprogramme vorerst weitgehend unverändert ablaufen, spricht deshalb nicht gegen die Ernsthaftigkeit der theoretischen Neubestim mung des sowjetischen Sicherheitsverständnisses. Dennoch ist schon jetzt bemerkenswert, daß die Mehrheit der politischen Führung und viele zivile Berater das Abschreckungsdenken auf neue Weise ablehnen, den Paritätsbegriff problematisieren und die Sicherheit zunehmend als übergreifende, allein nicht zu lösende Aufgabe verstehen. Wenn sich „Sicherheitspartnerschaft“ nicht nur als philosophisches, sondern als operatives Konzept durchsetzen sollte, ergeben sich für zahlreiche Fragen der internationalen Sicherheitspolitik neue Perspektiven, vorausgesetzt, daß die westlichen Staaten hier als Partner zur Verfügung stehen (was bezweifelt werden darf). So könnten von den vertrauensbildenden Maßnahmen bis hin zu signifikanten Abrüstungsschritten wesentliche Ergebnisse erzielt werden. Das Konzept der „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ müßte sich sowohl in den jeweiligen operativen Einsatzrichtlinien für Gefechtsführung wie in der Dislozierung der Kampfverbände und des Materials und schließlich auch in der Art und Struktur der Bewaffnung ausdrücken. Erhaltung des Weltmachtstatus Es ist interessant, daß sich der sowjetische Generalsekretär nach seinen sicherheitsphilosophischen Reden auf dem 27. Parteitag im Februar 1986 und auch dem Moskauer Friedensforum ein Jahr später nach den Rüstungskontroll– und Abrüstungsoffensiven nun auch Gedanken über die Realisierungschancen verminderter Waffenproduktion bis hin zur Konversion macht. Aber konkrete Ansätze zu einer Übersetzung dieser nicht nur für die SU, sondern für eine politische Führung überhaupt neuen Konzepte stehen noch aus. Das hat auch mit Moskauer Unwägbarkeiten und der Unwilligkeit mancher „Altgläubiger“ zu tun, mehr aber wohl mit westlicher Interessenpolitik und mit Blockaden auch innerhalb der NATO. Wenn sich aber in der „Praxis“ bislang so wenig geändert hat, ist dann nicht doch alles nur Schein und Trug? Zielen die aufregenden Thesen aus Moskau vielleicht nur auf ein gutgläubiges westliches Publikum? Soll lediglich Streit in die NATO hineingetragen werden? Die sowjetische Interessenlage, die Priorität des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbaus spricht dagegen. Denn die neue Weltinterpretation und die Abrüstungsinitiativen entsprechen sowjetischem Eigeninteresse. Trotzdem: Die neue politische Führung im Kreml hat kein klares Bild über die künftige Rolle ihres Landes in der Welt. Unklar ist, ob der Weltmachtstatus weiter als unverzichtbar angesehen wird oder ob der angestrebte außenpolitische Pragmatismus zu einem Ko– Management beider Weltmächte in Krisenregionen über die Betroffenen hinweg führen wird. Dies sind einige der spannenden Fragen zur künftigen sowjetischen Außen– und Sicherheitspolitik. Die nach der Ernsthaftigkeit der neuen Beweglichkeit ist von gestern. Klaus Segbers ist Mitarbeiter von Dieter Senghaas an der Universität Bremen
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