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Ein militärisches Roulettespiel

■ Neue US–Studie weist auf die Empfindlichkeit moderner Waffensysteme gegenüber elektrischen Impulsen verschiedenster Art hin / Jede Menge „versehentliche“ Explosionen

Aus Genf Andreas Zumach

Raketen starten von alleine, bestimmen ihren Kurs selbst, Sprengsätze detonieren wie von Geisterhand gezündet - elektromagnetische Strahlungen oder elektrostatische Aufladungen bei Gewittern führen zu Störungen der hochempfindlichen Elektronik atomarer und konventioneller Waffen. Gefährliche Unfälle sind die Folge. Doch für Wissenschaftler ist dieses Phänomen noch weitgehend ungeklärt. Deshalb verklagten Umweltschutzgruppen in den USA das Pentagon Anfang September wegen fahrlässiger Handhabung und Lagerung der gefährlichen Waffen. Sie wollen damit den Bau einer geplanten Militäranlage im Süden Floridas verhindern. Die Klage stützt sich auf die Studie „Das tödliche Risiko elektromagnetischer Strahlung (HERO) - ein militärisches Roulette spiel.“ Die unabhängige Forscherin Patricia Axelrod aus Washington D. C. wertete in dieser bislang vertraulichen Untersuchung geheime Dokumente aus. Beeidete Aussagen ehemaliger wie heutiger Mitarbeiter von Nuklearwaffenfabriken, Pentagon und Forschungseinrichtungen bezeugen, daß seit 1945 allein bei der US– Marine mindestens 25 derartige Unfälle passiert sind. Der bisher folgenschwerste mit mehreren hundert Toten geschah während des Vietnamkrieges 1972 auf dem US–Flugzeugträger „Forrestal“. Eine Zooney–Rakete machte sich selbständig und setzte das Schiff in Brand. Die genaue Zahl der Unfälle, bei denen Raketen ungeplant starteten, falsch flogen oder Sprengsätze detonierten, ist allerdings unbekannt. Charles Cormack Jr., seit über 30 Jahren HERO–Spezialist bei der US– Navy scheiterte bislang mit der Aufstellung einer vollständigen Übersicht: Über 50 Prozent aller Unfallakten wurden vernichtet - im Zuge eine „Säuberungsaktion“. Armee und Luftwaffe sind in noch stärkerem Ausmaß von dem Problem betroffen. Die Zahl der durch HERO–Einfluß verursachten Todesfälle wird jedoch geheimgehalten. Anfällig sind theoretisch sämtliche atomaren und modernen konventionellen Waffensysteme. Sie alle sind mit einer Zündvorrichtung ausgestattet, die auf elektronische Impulse reagiert. Die von den Militärs und Rüstungsproduzenten so gerne als „intelligent“ bezeichneten Waffen, sind jedoch an entscheidender Stelle nur „halbklug“ (Axelrod): sie können nicht unterscheiden, was die Quelle des elektronischen Impulses ist, und ob der Impuls absichtlich ausgelöst wurde. Zu den potentiellen Quellen zählen Fernseh– und Radiosender, Radarstationen, Elektrizitätswerke und Hochspannungsleitungen. Je zahlreicher derartige Einrichtungen in einem so dichtbesiedelten und hochmilitarisierten Land wie der Bundesrepublik sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall wie in Heilbronn. Drei US–Soldaten wurden getötet, neun schwer verletzt, als am 11. Januar 1985 auf der Heilbronner Waldheide die erste Antriebsstufe einer Pershing II–Rakete explodierte und ausbrannte. Selbst die örtliche CDU verlangte damals den Abzug der atomaren Massenvernichtungsmittel aus dem dicht besiedelten Heilbronner Gebiet. Der Verdacht, daß Atomsprengköpfe in Unfallnähe lagerten und auch hätten explodieren können, konnte bis heute nicht ausgeräumt werden. Im abschließenden Untersuchungsbericht der US–Army vom 15. April 1987 heißt es zu dem Vorfall jedoch, daß „elektrostatische Aufladungen“ zu dem Unfall geführt hätten.

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