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Ein Leben im Testgebiet

Claudia Peterson wurde 1955 in St.Georges, Bundesstaat Utah, einem Wüstenstädtchen 300 Kilometer östlich vom Atombombentestgelände „Nevada Test Site“, geboren. Die Testexplosionen sind ihr seit frühester Kindheit in Erinnerung: Die Erde bebte und am Himmel standen merkwürdige rosarote und orange Wolken. Die Regierung verteilte wiederholt Broschüren und Flugblätter, in denen es hieß, daß die Einwohner von St.Georges und benachbarter Städtchen nur harmlosen Mengen radioaktiver Strahlung ausgesetzt seien. Viele ihrer Nachbarn, erinnert sich Claudia, freuten sich über das Spektakel der Explosionen. Ihre Mutter allerdings, eine Krankenschwester, blieb ängstlich, ließ die Kinder während der Tests, von denen allerdings nur wenige vorher angesagt wurden, nicht aus dem Haus. Doch das Leben der Kinder spielte sich im Freien ab, und im Sommer ernährten sich die Familien von Gemüse und Obst aus dem Garten. Zweifel kamen wiederholt auf: Drei Jahre bevor Claudia geboren wurde, waren während eines Tests 17.000 Schafe auf der Weide verendet. Das Fell, so die Schäfer, sei den Tieren in Büscheln ausgefallen, und viele Lämmer seien mit schweren Mißbildungen geboren worden. Als die Eigentümer vor Gericht gingen, machte die Regierung ungünstige Wetterschwankungen und Infektionskrankheiten für das Schafsterben verantwortlich. Kompensationen wurden nicht gezahlt. Als Claudia 12 Jahre alt war, starb eine ihrer Klassenkameradinnen an Leukämie, zwei Jahre später ein Klassenkamerad an Knochenkrebs. Zuweilen kamen Regierungsbeamte mit Geigerzählern in die Schule und untersuchten die Kinder auf Radioaktivität. Als der Geigerzähler in Claudias Nähe hohe Werte registrierte, machte der Beamte Rönt genuntersuchungen beim Zahnarzt dafür verantwortlich. Ihre Schwester, Mutter von sechs Kindern, hat seit Jahren Hautkrebs und wird nicht mehr lange leben. Claudias Vater ist vor zehn Jahren an den Folgen eines Gehirntumors gestorben und drei ihrer früheren Klassenkameradinnen haben Kinder, die im selben Jahr an Krebs erkrankt sind. Es gibt kaum eine Familie von St.Georges, in der nicht mindestens ein Fall von Krebs, von Fehlgeburten oder Geburtsfehlern aufgetreten ist. Vor dem Beginn der Bombentests lag die Krebsrate unter den etwa 100.000 Bewohnern des betroffenen Gebiets um 20 Prozent unter dem amerikanischen Durchschnitt. Ein großer Teil der dort lebenden Menschen gehört der Kirche der Mormonen an, raucht nicht und trinkt weder Alkohol noch Kaffee und ernährt sich überwiegend vegetarisch. Seit Beginn der Tests liegt die Leukämierate um 50 Prozent über dem Durchschnitt, und die Rate für andere Krebsraten ist auch gestiegen. Claudia Peterson glaubt nicht an Zufall. Warum, fragt sie, wenn die Tests so ungefährlich sind, wird nur getestet, wenn der Wind nicht in Richtung auf Las Vegas oder die kalifornischen Großstädte im Westen steht? Sie weiß, die Gefahr ist nicht vorbei: Auch bei den heute durchgeführten unterirdischen Tests wird immer wieder Radioaktivität frei - Radioaktivität, die der Wind nach St.Georges und andere Wüstenstädtchen im Osten trägt. Warum sie nicht weg zieht mit ihren drei Kindern? Wohin? Ihre Heimat bedeutet ihr viel, denn ihre Familie lebt dort seit Generationen, durch die Kirche verankert. Sie ist als Mormonin erzogen worden, ihr Vaterland zu lieben, den Gesetzen zu gehorchen. Vielleicht ein fünfminütiges Gespräch mit Präsident Reagan, meint sie nachdenklich - vielleicht würde das alles in Ordnung bringen.

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