Busse und Bahnen für alle

■ 300 Behinderte demonstrieren auf einer Veranstaltung in Kassel / Mitleid war nicht gefragt / Modellversuch in München funktioniert / Durch Kreuzungsbesetzung erleben Autofahrer für Minuten Behinderten–Alltag

Aus Kassel Oliver Tolmein

„Der Staat läßt uns am Leben, am Leben teilhaben läßt er uns nicht“ - die mehr als 300 Behinderten, die am Samstag in Kassel für behindertengerechten Nahverkehr demonstrierten, waren mit ihren Transparenten und Sandwiches nicht vornehm zurückhaltend: Es wurde gefordert und gedroht. Und wer von den Passanten am Strassenrand Mitleid oder gar ne Mark spenden wollte, mußte mit unwirschen Reaktionen rechnen: herablassend–freundliche Gesten wa ren nicht gefragt. Beim an die anderthalbstündige, bundesweite Demo anschließenden Kulturprogramm wurde von der „Krüppelinitiative Marburg“ der „Krüppel–Power–Blues“ gesungen. Und dann kam, als letzte Aktion, noch eine kurzfristige, ein kleines bißchen illegale Kreuzungsbesetzung zustande, die Straßenbahnen und Autos zum Stehen brachte. Zehn Minuten mußten die zum verkaufsoffenen Samstag in die Innenstadt gehetzten KasselerInnen erleben, was für viele Behinderte tagtäglich Realität ist: Sie kamen nicht vom Fleck. Die Reaktionen der so kurzfristig Betroffenen fielen bedeutend unsachlicher aus, als die der Behinderten, die „Busse und Bahnen für alle“ forderten und sich gegen die aussondernden und sie stark einschränkenden Behindertenfahrdienste wandten. Die argumentierten nämlich bei der Abschlußkundgebung und auf den Flugblättern, die verteilt wurden, sachlich und nüchtern - während die wartenden Autofahrer mit quietschenden Reifen ohne Rücksicht auf irgendwas wendeten und aus den Straßenbahnen oder vom Straßenrand der Volkszorn tönte: „Nehmt denen doch die Stütze weg, dann bleiben sie, wo sie hingehören, nämlich zu Hause“. Die Ruhe der Behinderten ist erstaunlich auch, weil ihre Forderung bereits über zehn Jahre alt ist und ohne besonders große Mühen umzusetzen wäre. Denn behindertengerechte Busse, Straßen– und U–Bahnen oder Eisenbahnwaggons gibt es schon lange. In München - darauf verwies Uwe Frehse in seiner Rede - wird auch bereits erfolgreich mit einer behindertengerechten Buslinie experimentiert. Positive Resonanz gebe es, so Frehse weiter, auch von anderen Gruppen: von Alten oder FahrerInnen von Kinderwagen. In der Regel sieht die bundesdeutsche Realität allerdings anders aus. Wie in Kassel beispielsweise, wo, wie in einem Beitrag geschildert wurde, gerade der letzte Bundesbahnbahnhof völlig neu gebaut wird: ohne behindertengerechte Zugänge. Das Argument der Bauherren ist von bestechender Logik: Da die Bahn selbst nicht behindertengerecht sei, bräuchten Behinderte eh eine Begleitperson, die sie zum Bahnhof bringt. Die könnte sie auch die viel zu steile Rampe hochschieben.