Jean Anouilh tot

■ Im Alter von 78 Jahren starb der französische Dramatiker am vergangenen Wochenende in Lausanne

Nichts Schlechtes über die Toten: aber er war einer der am meisten überschätzten Dramatiker der „klassischen Moderne“. Kaum jemand hat so viele „Renaissancen“ erlebt wie Jean Anouilh, Jahrgang 1910, und kaum ein Autor ist bei all seinen Wiederentdeckungen so gleichmütig zur Kenntnis genommen worden. Seine Zeitgenossen Frisch und Dürrenmatt haben die fünfziger Jahre immerhin mit ihrem rigorosen politischen Moralismus vertraut gemacht; Anouilh war, verglichen mit ihnen, ein Kunsthandwerker. Geboren wurde er in Bordeaux als Sohn eines Schneiders und einer Geigerin. Nach einigen Brotjobs und einem wegen Geldmangels abgebrochenen Jurastudium wurde er als Sekretär des großen Regisseurs Louis Jouvet mit dem Theater–Virus infiziert. Sein Erstling „Der Reisende ohne Gepäck“, ein Identitätsdrama über einen kriegsheimkehrenden Soldaten, machte ihn 1937 sofort bekannt. Unter der Nazi–Besatzung schrieb er sein berühmtestes Stück, „Antigone“. „Kreon verkörpert die Staaatsraison, und Antigone geht als Verkörperung der kompromißlosen Jugend in den Tod, um ihre Reinheit zu bewahren“ - auf solche dpa–Nullsätze läßt sich das Stück, ohne ihm allzuviel Unrecht zu tun, tatsächlich reduzieren. Als seine „Antigone“, in der viele eine Rechtfertigung der kollaborierenden Vichy–Regierung sahen, erstmals nach dem Krieg wiederaufgeführt wurde, blieb der Schlußapplaus aus, bis der Militärgouverneur von Paris als erster klatschte. Von den sechziger Jahren an wurden seine Stücke deutlich reservierter aufgenommen; sein Ideenrepertoire reichte nur für ein Aufbau–Jahrzehnt. Ihm wurden Pessimismus und seichte Situationskomik vorgeworfen. Als die Agenturen mitteilten, er sei am Samstag in Lausanne gestorben, fragten gleich zwei taz– Redakteure: „Ach so, der hat noch gelebt?“ - Deprimierender kann ein Autor nicht unbedeutend werden. Klaus Nothnagel