UdSSR plant „Demokratisierung“ des Preissystems

■ Mehr sogenannte Vertrags– und Marktpreise, weniger zentral festgelegte Preise / Über künftige Entwicklung der Lebenshaltungskosten hüllen sich Moskauer Wirtschaftsplaner noch in Schweigen / Großhandelspreisreform tritt erst 1990 in Kraft / Das polnische Beispiel sorgt für delikate Umsetzung der Reform

Aus Moskau Alice Meyer

In der Sowjetunion sollen neben den herkömmlichen, vom Staat festgelegten Preisen und Tarifen andere Preisarten größere Bedeutung erlangen: Zwischen Lieferanten und Abnehmern frei ausgehandelte „Vertragspreise“ sowie dezentral festgelegte Preise. Das sieht ein kürzlich veröffentlichter ZK– und Ministerratserlaß „über Hauptrichtungen des Umbaus des Preisbildungssystems“ vor. Anstehende Preiserhöhungen sollen nicht mehr durch Indiskretionen der staatlichen Preiskommissare und durch Flüsterpropaganda bei den Verbrauchern durchsickern - was früher regelmäßig zu Hamsterkäufen führte - sondern öffentlich erörtert und bekanntgegeben werden. Das staatliche Preiskomitee der UdSSR wird das sowieso aussichtslose Unterfangen, die Preise aller 22 bis 25 Millionen verschiedenen Produkte und Artikel der Sowjetökonomie zu beaufsichtigen, offiziell einstellen. Staatliche preispolitische Eingriffe sollen künftig nur noch rund zehn Prozent aller Warenpositionen betreffen: Erzeugnisse wie z. B. Rohstoffe, Primärenergieträger und andere Basisprodukte, die auf irgendeine Weise die Wert– und Preisstruktur der Wirtschaft bestimmen, ferner bestimmte Massenkonsumartikel. Die überwiegende Mehrzahl der Preise wird von den Fachministerien und Territorialorganen oder aber durch freie Vereinbarung zwischen staatlichen und/ oder genossenschaftlichen Wirtschaftssubjekten festgelegt. Mit dem Ziel, die „Preisdisziplin“ zu überwachen und die Monopolpreise im Keim zu ersticken, will das staatliche Preiskomitee eine größere Zahl von „Preisinspektionen“ ins Leben rufen. Sowjetische Beobachter befürchten „alten Wein in neuen Schläuchen“: Der alte, ineffektive Preiskontrollapparat ist drauf und dran, sich unter veränderten Behördenbezeichnungen zu reproduzieren. Michail Gorbatschows „radikale Reform des Wirtschaftsmechanismus“ ist ohne neue Formen der Preisbildung und -anpassung nicht möglich. Nichts ist in der Sowjetökonomie in den letzten Jahren und Jahrzehnten so sehr aus den Fugen geraten wie das Preissystem. Der Verbraucher merkte davon wenig oder nichts: die ad ministrierten Preise für vom Staat bereitgestellte Konsumgüter und Dienstleistungen blieben bisher größtenteils stabil. Aber auf den vorgelagerten Produktionsstufen mußten und müssen in Form von Preissubventionen aus dem Staatshaushalt immer größere Geldsummen mobilisiert werden, damit angesichts der auseinanderdriftenden Produktionskostenentwicklung in den einzelnen Wirtschafts– und Industriezweigen überhaupt noch ein Austausch der Zwischenprodukte und Einsatzmaterialien zu wirtschaftlich „vorteilhaften“ Bedingungen organisiert werden kann. Die Grundlagen des sowjeti schen Preissystems wurden in einer Zeit geschaffen, als sich die Wirtschaftsentwicklung des Landes noch ausschließlich auf innere Quellen stützte: auf die Naturressourcen und Arbeitskräfte. Beides wird im internationalen Vergleich sehr billig. Hier sind in den letzten zwei Jahrzehnten aber tiefgreifende Änderungen eingetreten. Die Erdöl– und Erdgasförderkosten in West–Sibirien haben sich seit Mitte der siebziger Jahre verzehn– bis verfünfzehnfacht. Arbeitskräfte sind - obwohl in der Produktion und im tertiären Sektor vielerorts unterbeschäftigt - knapp geworden. Bisher hatten sich die sowjeti schen Preisplaner auch der Illusion hingegeben, daß ein starres Festhalten am überkommenen Preisgefüge niemandes Interesse tangiere, die sozialökonomische Stabilität gewährleiste usw. Was man herbeiführte, war aber nicht „Stabilität“, sondern Stagnation und Aufkommen einer weitverzweigten Schattenwirtschaft. Von letzterer profitierten vor allem die kaufkräftigen Schichten. Die sozialen Gegensätze haben in der Sowjetgesellschaft dadurch stark zugenommen. „Generallinie“ der sowjetischen Preisreform ist die stärkere Berücksichtigung der realen Kostenverhältnisse in der Preisgestaltung und die teilweise Ersetzung der Preissubventionen im Erzeugerbereich durch Ausgleichszahlungen an sozial schwache Verbraucherschichten (z. B. kinderreiche Familien, Rentner, Studenten), die von Preiserhöhungen bei Konsumgütern des Grundbedarfs natürlich am meisten betroffen sind. Wird in der UdSSR nun alles teurer? Werden die zum Teil seit Jahrzehnten eingefrorenen Preise für Grundnahrungsmittel, die kommunalen Beförderungstarife, die Gebühren für staatliche Dienstleistungen einen mächtigen Satz nach oben machen? Die sowjetischen Verantwortlichen wollen sich hier einstweilen noch nicht festlegen. Dem Vorsitzenden des staatlichen Preiskomitees, Walentin Sergejewitsch Palow, war in einem „Iswestija“–Interview die Teuerungsfrage „zu kompliziert und zu brisant“. Die Lebensmittelpreise sind das augenblickliche Lieblingsthema der sowjetischen Presse. Offensichtlich soll die Bevölkerung schonend darauf vorbereitet werden, daß Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Brot, Milch und Milchprodukte, aber auch Mieten und U–Bahn–Fahrten teurer werden. Das vorsichtige Taktieren der sowjetischen Preisplaner ist kein Zufall. Man hat das warnende Beispiel Polens im Hinterkopf, war doch der Auslöser der ganzen „polnischen Krise“ 1980 eine staatliche Korrektur der Fleischpreise nach oben. Die sogenannten Sozialprogramme - Erhöhung der Löhne, Renten und Beihilfen - wurden immer sozusagen plangetreu erfüllt. Das war bei den Produktionsplänen von Industrie und Landwirtschaft längst nicht immer der Fall. Der amtlichen Lebenshaltungskosten–Statistik wird von den sowjetischen Verbrauchern wenig Vertrauen geschenkt. Das staatliche Preisamt verbreitet z. B. die Angabe, daß der Index der staatlichen Einzelhandelspreise im Dreißig–Jahreszeitraum 1957 - 1986 nur um 8,7 Prozent gestiegen sei. Der sowjetische Verbraucher hat indessen den Eindruck weit höherer Preissteigerungen. So soll der durchschnittliche Einzelhandelspreis für Schuhe im Laufe der letzten zehn Jahre um 30 Prozent geklettert sein, obwohl der offizielle „Schuhpreisindex“ für diesen Zeitraum ein Nullwachstum ausweist. Des Rätsels Lösung besteht häufig darin, daß neue Fabrikate und Artikel auf den Markt gebracht werden, die gegenüber älteren Modellen nur marginale Änderungen aufweisen, aber wesentlich teurer sind. Als „modisches“ oder „neuartiges“ Erzeugnis gehen diese Artikel nicht oder nur mit erheblicher Verspätung in die zur Indexberechnung zusammengestellten Warenkörbe ein.