Wir hatten keine Ahnung von Radioaktivität

■ Britische Atomkraftgegner erinnern an den schweren Atomunfall vor 30 Jahren in Sellafield / Von der Naivität in Sachen Radioaktivität und ihren Folgen / Die Auswirkungen des Strahlenunfalls treffen inzwischen die zweite Generation

Aus Sellafield Rolf Paasch

Im „Seawfell Hotel“ von Seascale warten sie auf Godot; oder den nächsten Atomunfall. Der Parkplatz des ersten Hauses am Platze ist ebenso verlassen wie der Kieselstrand jenseits der kleinen Bahnstation. Die negativen Schlagzeilen über die hinter dem Hotel aufragende Atomanlage von Sellafield scheinen auch die letzten Urlauber aus dem einst so populären Ferienort im Nordwesten Englands vertrieben zu haben. Bis auf drei ältere Ladies, die sich in ihren verschossenen Popeline–Blousons in der ungeheizten Hotelbar zum Lunch versammelt haben. „Haben Sie gelesen“, fragt der Wirt die drei übriggebliebenen Damen, „drüben in Sellafield gibt es heute Mittag eine Demonstration wegen des Feuers vor 30 Jahren.“ „Des Feuers? Welches Feuer?“ rufen die drei missmarpligen Gäste entsetzt im Chor. „Ach“, winkt der Wirt unwillig ab, „das ganze ist nur viel Lärm um nichts.“ Nichts, das war der zweitschwerste Atomunfall nach Tschernobyl, als hier in den damals noch Windscale genannten militärischen Versuchsreaktoren ein Feuer ausbrach, dessen Auswirkungen erst Jahrzehnte später sichtbar werden sollten. Auf dem Vorplatz zum Haupttor der Atomanlage haben sich zum 30. Jahrestag des Windscale– Unfalls rund 300 Atomkraftgegner zu einer Gedenkfeier versammelt. „Warum nur 300“, fragt die Presse Jean Emery von der Gruppe der lokalen Atomkraftgegner. „Nun“, sagt sie, „wir waren nie so naiv zu glauben, daß die Leute aus Cumbrien hier in Scharen auftauchen werden.“ Sellafield ist der größte Arbeitgeber in der an landschaftlichen Reizen so reichen und an Arbeitsplätzen so armen Region im Nordwesten Englands. Statt durch die lokale Bevölkerung wird die Menge der angereisten Demonstranten durch eine 15köpfige Allparteien–Delegation von der irischen Ostküste verstärkt. Jenseits der Irischen See ist die Besorgnis über den alltäglichen radioaktiven Ausstoß Sellafields größer als in den unmittelbar umliegenden Ortschaften. Hinter dem Rednerpodium, von dem gerade Ken McGinley von der „Britischen atomaren Testveteranen–Vereinigung“ spricht, ragt der bisher immer noch nicht entseuchte Turm des Unfallreaktors „Pile 1“ wie ein Mahnmal in den wolkenverhangenen Himmel. Vor den Toren der Anlage, wo immer noch Plutonium zu militärischen Zwecken angereichert und zu zivilen Zwecken wiederaufgearbeitet wird, berichtet Ken McGinley von den Folgen der Atombombenentwicklung hier. Er zitiert verstaubte Geheimdokumente, aus denen hervorgeht, daß die 22.000 bei den ersten Atombombenversuchen auf den pazifischen Weihnachtsinseln eingesetzten Soldaten von der britischen Regierung bewußt als Versuchskaninchen eingesetzt worden waren, um die Effekte der radioaktiven Strahlung „auf Menschen und Material“ zu testen. Heute, so fährt der Chef der Veteranenvereinigung fort, seien selbst bei den Kindern dieser Testsoldaten Folgeerscheinungen dieses Einsatzes festzustellen, an deren Auswirkungen viele ihrerVä ter bereits gestorben sind. „Wir“, erinnert sich Ken McGinley, „hatten doch damals keine Ahnung, wie gefährlich das radioaktive Zeug sein kann.“ Keine Ahnung hatten auch diejenigen, die in den Oktobertagen des Jahres 1957 in der Kommandozentrale von „Pile 1“ im damaligen Windscale ihren Dienst taten. Unter ihnen war auch der Instrumententechniker Arthur Wilson, der bei der Erinnerungsfeier nicht dabei ist. Seit zwölf Jahren sitzt er im Rollstuhl: Diagnose unbekannt. Arthur Wilson war es, der vor genau 30 Jahren als erster entdeckte, daß mit dem Versuchsreaktor etwas nicht in Ordnung war. Als die Temperatur nach dem Abziehen der Brennstäbe immer noch nicht abgesunken war, blieb es ihm überlassen, einen Blick in den überhitzten Reaktorkern zu werfen. „Die Temperaturanzeiger wollten einfach nicht sinken, und wir wußten nicht, was wir tun sollten“, beschreibt er die dramatische Situation im Kontrollraum des Versuchsreaktors. Erst 20 Stunden nach der Entdeckung des Feuers rief man die Feuerwehr, die den Brand schließlich mit Wasser löschte. Resultat dieser Verzweiflungsaktion war eine radioaktive Wolke, die den Filter des Reaktorturms mit einem Jod–131– Gehalt verließ, der um das 100–1000fache über der beim Unfall von Three Mile Island freigesetzten Radioaktivität lag. Heute liegen die Krebs– und Leukämieerkrankungen unter Kindern im Umkreis von Sellafield um das 4–10fache über dem nationalen Durchschnitt. Wissenschaftler schätzen, daß die radioaktive Wolke bis zu 250 Krebserkrankungen verursacht haben könnte, 20 davon mit tödlichem Ausgang. Ob Arthur Wilson seine unbekannte Krankheit mit dem Unfall von 1957 in Verbindung bringt? „Natürlich“, sagt er. „Aber beweisen, beweisen läßt sich da nichts.“ Fünf Jahre nach dem Feuer mußte er sich pensionieren lassen. Kurze Zeit später versagten seine Beine dann völlig ihren Dienst. Eine Kompensation von den Betreibern der Anlage hat er bisher nicht erhalten, da es weder Dokumente darüber gibt, welche radioaktive Dosis Arthur Wilson während seiner Tätigkeit in Windscale erhalten hat, noch eine Diagnose seiner Krankheit vorliegt. „Ich bin damals ja nicht einmal dekontaminiert worden“, erinnert er sich an das Chaos nach dem Unfall. Doch zur völligen Überraschung all derer, die ihn in diesen Tagen befragen, will Arthur Wilson nicht, daß aus seinen schmerzlichen Erfahrungen Konsequenzen gezogen werden. Er sieht sich als „unglückliches Opfer“ eines notwendigen technischen Fortschritts. „Sellafield schließen?“ - „Nein. Wir haben ja auch die Bergwerke nicht zugemacht, nur weil einige Kumpels an der Staublunge starben.“