Paranoia in der Frankfurter Szene

■ Verdächtigungen, Befürchtungen und jede Menge Gerüchte nach den Morden an der Startbahn West / Verunsicherung in diversen Wohngemeinschaften von Offenbach bis Rüsselsheim / Die Angst vor Spitzeln ist oft ins Groteske angestiegen

Von Klaus–Peter Klingelschmitt

Frankfurt (taz) - In diversen Wohngemeinschaften in Frankfurt, Offenbach, Hanau, Mörfelden–Walldorf und Rüsselsheim macht sich Paranoia breit. Die Befürchtung, daß Landeskriminalamt (LKA) und Bundeskriminalamt (BKA) nach den tödlichen Schüssen an der Frankfurter Startbahn jetzt die gesamte Szene „aufmischen“, ist sicher nicht unbegründet, denn „alles was die von Eichler wissen wollen, sind doch Namen, Namen und nochmals Namen“, hieß es gestern in Szene– Kreisen. Daß Eichler - vor seinem Umzug nach Frankfurt - in Offenbach gelebt hat, elektrisierte die Szene von „dribb de Bach“ ganz besonders. Da erklären harte Kämpfer aus der Lederstadt, für die die Schüsse an der Startbahn „einfach Wahnsinn“ sind, daß Eichler schon immer „nicht ganz koscher“ gewesen sein soll. Der mutmaßliche Täter soll darüberhinaus mit einem Typen „herumgezogen“ sein, der „verdammt nach Verfassungsschutz“ gerochen habe. Für die Offenbacher war eigentlich klar, daß dieser Bekannte von Eichler wenn schon nicht der Todesschütze, dann doch zumindest der „Anstifter“ gewesen sein muß. Daß es sich bei dem seit Dienstag zur Fahndung ausgeschriebenen Frank Hoffmann aus Mörfelden–Walldorf nicht um den vermeintlichen Verfassungsschützer aus Eichlers Bekanntenkreis handelt, ist den Offenbachern da kein Gegenbeweis: „Falls der tatsächlich vom Verfassungsschutz ist, werden die den doch nicht festnehmen.“ Ob die harten Kämpfer an einer Legende stricken, oder ob ihnen konkretere Hinweise als die bisher vorgetragenen vorliegen - wer will das wissen? Namen werden von den Informanten aller Lager nur in den seltensten Fällen ge nannt. Die Angst vor den Spitzeln, die sich in den letzten Jahren in die Szene eingeklinkt haben sollen, ist nach den Morden an der Startbahn ins Groteske gestiegen. Da wurden - sofort nach der Bluttat - die Leute, die als erste festgenommen worden waren, als „Spitzel“ gehandelt. Der Umstand, daß drei der Festgenommenen nach nur wenigen Stunden wieder freigelassen wurden, diente einigen Paranoikern als Beweis für ihre These. Andere wiederum, die sich als „Bekannte“ der Verhafteten vorstellten, hielten diese Beschuldigungen für „vollkommen absurd“. Daß dann diese Bekannten, die „Freibriefe“ für die drei namentlich bekannten Startbahngener/innen ausgestellt haben sollen, gleichfalls in den Verdacht gerieten, Spitzel zu sein, versteht sich da fast schon von selbst. Die Szene ist extrem verunsichert. Noch immer herrschen Tendenzen vor, das „Undenkbare“ als wahrscheinlichste Version der Bluttat nicht zu akzeptieren: Daß die tödlichen Schüsse an der Startbahn von einem von „uns“ abgefeuert wurden. Die bisherige Informationspolitik der Bundesanwaltschaft hat allerdings mit dafür gesorgt, daß Legendenbildungen überhaupt erst möglich wurden. Details über den Tathergang und die Festnahmen wurden von der Bundesanwaltschaft nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit weitergegeben. Der Umstand, daß die Bundesanwaltschaft noch immer davon ausgeht, daß vor den Schüssen das Kommando: „Scharfschützen Feuer!“ aus den Reihen der Startbahngegner gekommen sein soll, läßt die Szene befürchten, daß es im Verlauf der nächsten Tage zu weiteren Festnahmen und auch Verhaftungen kommen wird, denn eine terroristische Vereinigung müsse mindestens aus drei Personen bestehen. Noch ist zum Beispiel völlig offen, ob es tatsächlich nur eine Tatwaffe gab. Bei zwei verschiedenen Demos in Hanau wurden immerhin zwei Pistolen geklaut; einige Informanten wollen gar wissen, daß Polizeibeamten in den letzten Jahren insgesamt vier Pistolen entwendet worden seien. Ungeklärt ist auch noch immer, wie es geschehen konnte, daß Eichler, der seit Monaten observiert wurde und dessen Telefon überwacht wurde, unbehelligt mit einer Pistole in den Startbahnwald marschieren konnte. Und der frisch zur Fahndung ausgeschriebene Hoffmann war bisher von keinem der taz–Informanten mit Eichler in Verbindung gebracht worden. Solange all diese Fragen nicht abschließend geklärt sind, wird die Gerüchteküche nicht nur in der Szene weiter brodeln. Eichlers Frankfurter Anwalt, der auf Bitten seines Mandanten bislang geschwiegen hat, erklärte gegenüber der taz, daß ihm jeden Morgen - bei der Lektüre diverser Tageszeitungen - die Haare zu Berge stehen würden: „Zu 80 Prozent stehen dort nur Halbwahrheiten und Spekulationen.“