: Sittenpolitik im Knast
HIV–Infizierte und AIDS–Kranke stehen schon in Freiheit vor einer kaum zu bewältigenden Lebenssituation, im Knast potenziert sich die Krise. „Die Angst bohrt Tag und Nacht, aber der Gefangene kann mit niemandem darüber reden.“ Der Nürnberger Gefängnispfarrer Otto Schramm schilderte eindringlich die „nicht mehr vorstellbare“ Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit von infizierten Gefangenen. Bei einer Besuchszeit von einer Stunde pro Monat, bei überwachtem Briefverkehr, im Kontakt mit mißtrauischen und von Angst beherrschten Vollzugsbeamten und Mitgefangenen sind die Knast–Infizierten mit der tödlichen Krankheit konfrontiert. Die Sozialpädagogin Gertraud Koob berichtete von einem Aufstand in einem ungenannten bayerischen Gefängnis aus Angst vor AIDS. Diese „erste Hysterie“ sei inzwischen zwar aufgefangen worden, aber Angst und Mißtrauen seien nach wie vor spürbar. Gegen diese Angst hat man hochkarätige Professoren zur Aufklärung über die Krankheit in die JVAs geholt. Die Gefangenen hätten, so Frau Koob, ein riesiges Bedürfnis nach authentischer Information. Doch die Information über die Krankheit nützt wenig, wenn nichts zur Verhinderung ihrer Ausbreitung getan wird. Die Alarmmeldung, daß in einzelnen Knästen in Italien oder den USA schon neun von zehn Gefangenen infiziert sind und die wachsende Zahl der Positiven auch in bundesdeutschen Anstalten hat noch immer keine Kursänderung im Voll zug gebracht. „Hier wird Sittenpolitik statt Seuchenpolitik betrieben“, empörte sich Bundesanwalt Manfred Bruns. Noch immer würden den Strafgefangenen Kondome, Einwegspritzen oder Desinfektionsmittel verweigert. Sex und Drogen hat es in deutschen Gefängnissen nicht zu geben. Und wenn es sie doch gibt, sollen die Gefangenen die - tödlichen - Konsequenzen selbst tragen. Hier orientiere sich die Politik nicht mehr an den Tatsachen, sondern am Wunschdenken. Tatsache aber sei, so Manfred Bruns, daß homosexueller Verkehr - oft als Notsexualität - in den Gefängnissen weit verbreitet sei. Und bekanntlich würden auch Drogen gespritzt, „das kann man nicht verhindern“. Bruns Appell: Wenn schon keine Einmalspritzen ausgegeben werden, sollten wenigstens Desinfektionsmittel zur Reinigung der „Stationspumpe“ zur Verfügung stehen. „Aber das tut man nicht, weil man sonst zugeben müßte, daß man das Problem der Drogen nicht in den Griff kriegt.“ 19 Fälle „mit einer HIV–Problematik“ kennt der Drogenberater Konrad Schorer in der JVA Bayreuth. Alle Infizierten sind auch für ihre Mitgefangenen leicht erkennbar. Sie haben zweimal statt üblicherweise einmal Hofgang, und sie erhalten eine Extra– Portion Milch. Damit hat der Staat sein Soll erfüllt. Die Münchner Gefängnisärztin Roswitha Lange nannte zwei weitere Sondermaßnahmen für infizierte Gefangene in den bayerischen Gefängnissen: Sie müssen in der Einzelzelle bleiben (Ausnahme: gemeinsame Zelle zusammen mit anderen Positiven) und sie sind von Küchenarbeiten ausgeschlossen. Frau Lange räumte zwar ein, daß der Küchen–Ausschluß seuchenpolitisch unsinnig sei, weil hier keine Ansteckungsgefahr bestehe, aber um die anderen Gefangenen nicht zu beunruhigen, sei das Küchenverbot unumgänglich. Daß durch solch ein Verbot die irrige Einschätzung verbreitet wird, auch soziale Kontakte seien ansteckend, wird offenbar in Kauf genommen. Das Küchenverbot gilt auch für Gefangene, die sich nicht testen lassen. Sie werden dann wie Infizierte behandelt. Der Berliner Soziologe Rolf Rosenbrock: „Das Grundrecht auf körperliche Integrität ist mit dem faktischen Zwang zum HIV–Antikörpertest weitgehend durchlöchert. Aus positivem Testergebnis bzw. aus Testverweigerung werden überwiegend medizinisch nicht begründbare Konsequenzen gezogen, de facto der Ausschluß vom Gemeinschaftsleben.“ Und was geschieht mit den Gefangenen, wenn die Krankheit AIDS voll ausgebrochen ist? Bundesanwalt Manfred Bruns berichtete über seinen Briefwechsel mit einer Justizbehörde, um die Freilassung eines AIDS–Kranken zu erreichen. Der Oberstaatsanwalt habe solange die Gefahr eines kriminellen Rückfalls gesehen, bis der Gefangene so schwach war, daß er nicht mehr in der Lage war, straffällig zu werden, weil er sein Bett nicht mehr verlassen konnte. Erst dann durfte er in die „Freiheit“.
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