: Europa - Klotz am Bein des Weltgendarms?
■ Das Budgetdefizit machts möglich: Immer stärker wird in den Vereinigten Staaten ein Truppenabbau in Europa gefordert / Die Westeuropäer sollen sich ihre Sicherheit etwas mehr kosten lassen / Die USA brauchen ihre knappen Dollar für Aktivitäten am Persischen Golf, in Lateinamerika und im Indischen Ozean
Von Robert L. Borosage
Über der Debatte um den eventuell bevorstehenden Abzug von Atomwaffen mittlerer Reichweite aus Europa (durch das geplante INF– Abkommen) sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß der Status quo der NATO von einer ganz anderen Seite her untergraben werden könnte - nämlich durch einen erheblichen Abbau konventioneller US–Streitkräfte in Europa, der im gesamten politischen Spektrum der USA immer mehr Anhänger findet. Die Nachwehen der „doppelten Null–Lösung“ werden die USA wohl noch das ganze nächste Jahr über beschäftigen. Henry Kissinger proklamiert bereits eine neue „Krise des Bündnisses“. NATO– Planungsexperten verlangen neue Schritte zur „Erhöhung der Abschreckung“: verstärkte Stationierung von seegestützten Cruise Missiles auf der NATO unterstellten amerikanischen Schiffen, Modernisierung von atomaren Gefechtsfeldwaffen, mehr Mittel für konventionelle Streitkräfte und dergleichen. Die Europäer werden mit Beteuerungen und Versicherungen gefüttert. Beruhigende Worte ändern nichts an der nackten Tatsache, daß die nächste US–Regierung - ob von den Republikanern oder den Demokraten gebildet, ob liberal oder konservativ - die Frage eines Abzugs größerer Truppenverbände aus Europa ernsthaft prüfen wird. Aufrufe zu einer Reduzierung der amerikanischen Truppen gehen nicht aus strategischen Überlegungen, sondern aus wirtschaftlichen Zwängen hervor. Das massive Defizit in der amerikanischen Handels– und Zahlungsbilanz, das Reagan seinem Nachfolger hinterlassen wird, hat die Vereinigten Staaten zur höchstverschuldeten Nation der Welt gemacht. In der amerikanischen Finanzwelt wurde bereits vor den Börseneinbrüchen des „Schwarzen Montag“ die Forderung laut, die USA müßten ihre Geldangelegenheiten in Ordnung bringen, d.h. die Defizite abbauen - in der Hoffnung auf fallende Zinsen und eine Ankurbelung des Wirtschaftswachstums. Nach den bereits erfolgten Kürzungen im Sozialbereich bleiben ohne ein drastisches Wirtschaftswachstum jedoch nur drei Wege zur Eindämmung der Defizite: Steuererhöhungen, Streichungen bei der sozialen Absicherung und im Gesundheitswesen oder Kürzungen im Militärbereich. Dieser letzte Posten, bei dem es im Augenblick eine zu Friedenszeiten in der amerikanischen Geschichte nie dagewesene Zuwachsrate gibt, ist das leichteste und naheliegendste Angriffsziel. Europa wird zu teuer Bei Streichungen im Verteidigungsetat stehen die amerikanischen Verpflichtungen gegenüber der NATO und Japan im Blickpunkt, und zwar aus demselben Grund, mit dem Willy Sutton erklärt hat, warum er Banken ausraubt: weil dort das Geld ist. Nach Schätzungen des General Accounting Office entfallen 56 Prozent der Militärausgaben auf die Verteidigung in Europa. Man spricht von einem Betrag zwischen 120 und 160 Milliarden Dollar pro Jahr. Zwei Drittel aller amerikanischen Überseetruppen sind in Europa stationiert. Eine Kürzung der konventionellen NATO–Verpflichtungen ist nicht der einzige Weg zu Einsparungen im amerikanischen Rüstungsetat. Aber bei den wachsenden Ressentiments gegen Euro päer und Japaner, die sich mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage nur zuspitzen können, bieten sich die NATO–Ausgaben am ehesten an. Die USA geben fast sieben Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Rüstung aus, die europäischen Länder durchschnittlich um die drei bis vier Prozent und die Japaner weniger als zwei Prozent. Daß diese Diskrepanz die amerikanische Wirtschaft belastet, ist ein Argument, das heute selbst im konservativen Lager akzeptiert wird. William Simon, Finanzminister der Nixon–Administration und heute der Guru der Wall–Street–Konservativen, zieht daraus den Schluß, daß „unser Beitrag (zur NATO) völlig überhöht ist (...) So können andere NATO–Regierungen ihre Steuereinsparungen benutzen, (...) um ihre Exporte zu subventionieren und damit auf dem Weltmarkt gegen uns anzutreten.“ In einer Zeit der sich verschärfenden Konkurrenz im Welthandel werden verbreitete Ressentiments weiter um sich greifen. So hat die liberale Republikanerin Patricia Schroeder bei ihren kurzen Sondierungen im Hinblick auf eine Präsidentschaftskandidatur festgestellt, daß es ausgesprochen positiv aufgenommen wurde, als sie sich für eine „Verteidigungs– Schutzgebühr“ einsetzte, mit der Exporte aus Überschußländern (sprich Deutschland und Japan) belegt werden sollten, die Nutznießer der amerikanischen Verteidigungsaufwendungen sind. Wie Patricia Schroeder sagt, sind die USA nicht nur in einen Kalten Krieg, sondern auch in einen Handelskrieg verwickelt, und in diesem Handelskrieg „lassen wir uns nicht nach Strich und Faden ausnehmen“. „Der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Handel ist offensichtlich“, schreibt sie in der Washington Post, „japanische Waren können billig in die USA eingeführt werden, weil wir dort ein massives Marineaufgebot stationiert haben, das die Wasserwege des Pazifik sichert. Die deutsche Industrie kann sich auf die Produktion hochwertiger Konsumgüter konzentrieren, weil die deutschen Gelder für Forschung und Entwicklung nicht wie unsere Dollar zum größten Teil in die Verteidigung gehen.“ Man braucht diese Analyse nicht für richtig zu halten, um ihre politische Bedeutung zu verstehen. Die Einschränkungen der amerikanischen Globalstrategie haben dazu geführt, daß konservative Strategen die Kosten des Engagements in der NATO kritisch unter die Lupe nehmen. In Europa ist die Lage nun schon fast 30 Jahre lang stabil. Die USA finden sich mehr und mehr in Krisen an anderen Orten verstrickt - am Persischen Golf und im Indischen Ozean, in Afrika und Lateinamerika. Die mangelnde Bereitschaft der Verbündeten, sich an forschen Unternehmungen der USA oder auch in Mittelamerika zu beteiligen, ist konservativen Ideologen ein Dorn im Auge und läßt Strategen nach US–Truppen für eine erweiterte „Schnellen–Eingreif– Truppe“ rufen. Neue Nationalisten Wie zu erwarten, wurde die Attacke gegen das NATO–Engagement der USA von den „Neuen Nationalisten“ am rechten Ende des politischen Spektrums angeführt, als deren prominentester Vertreter Irving Kristol gilt, Leitartikler des Wall Street Journal und Doyen der Neokonservativen. Seine Ansichten werden jetzt in Untersuchungen nachgebetet, die von der „Heritage Foundation“ und anderen der Regierung Reagans nahestehenden Organen der neuen Rechten gefördert werden. Kristol meint, Europa sei „vom Virus der Sozialdemokratie infiziert“; seine Regierungen seien „aus dem harten Spiel der Weltpolitik ausgestiegen, um sich den Annehmlichkeiten der eigenen Häuslichkeit hinzugeben“. Sie seien Schmarotzer der USA. Zur Lösung des Problems empfiehlt Kristol eine „Schock–Therapie“: Die USA erklären die erweiterte atomare Abschreckung als „Schwindel“ und lösen ihre Truppen aus der NATO heraus. Das führt zu einer „rein europäischen NATO mit eigenen Atomwaffen und einer eigenen militärischen Strategie“. Sollten die Europäer nicht darauf ansprechen, sind sie es sowieso nicht wert, verteidigt zu werden. Kristols Position ist zwar extrem, aber eigentlich nur eine provokante Fortführung der Ansichten von konservativen Globalstrategen wie Ex–Außenminister Henry Kissinger und Präsident Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski. Beide treten dafür ein, daß die USA ihre Truppen in Europa reduzieren und die Europäer gleichzeitig ihre konventionelle Verteidigung in die eigenen Hände nehmen. Kissinger hat angeregt, daß ein Europäer NATO–Oberbefehlshaber wird, daß die Europäer mit den Sowjets Verhandlungen über konventionelle Truppen in Europa führen, und daß die Europäer „bis zum Jahre 1990 die Verantwortung für ihre konventionelle Verteidigung übernehmen“. Brzezinski hat ausführlich dargelegt, daß Europa in militärischen Dingen autarker werden muß. Die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung ergibt sich bei beiden aus knappen Mitteln und globalen Machtansprüchen: Die Staaten Europas müssen die regionalen Verteidigungslasten tragen, damit die USA frei sind, ihren „globalen Verpflichtungen“ nachzugehen. In der aufreibenden Debatte um die Null–Lösung, der sie mit erheblicher Skepsis gegenüberstehen, haben Kissinger wie auch Brzezinski ihre Ansichten abgeschwächt. Kissinger hat in einem Artikel in Newsweek die von dem Abbau der Atomwaffen in Europa heraufbeschworene Krise in düsteren Farben ausgemalt; dabei hat er erklärt, zwar sei „eine Zeit des atomaren Rückzugs nicht geeignet, auf eine sogenannte Verteilung der Lasten zu dringen“, zugleich aber die Notwendigkeit bekräftigt, „Europa mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung zu gewähren“... Jesse Jackson und die Liberalen Auf dem liberalen Flügel werden angesichts des Zwangs zu Kürzungen im Militärhaushalt Fragen über die amerikanischen NATO– Truppen laut. Als Sprecher einer immer einflußreicher werdenden Fraktion der Demokratischen Partei führt Reverend Jesse Jackson eine volksnahe Kampagne für „Wirtschaftsgerechtigkeit statt Wirtschaftsgewalt“. Für Jackson und seine Anhänger ist eine Neuordnung der amerikanischen Ausgabenpolitik zwingend geboten: Ohne gravierende Kürzungen der Rüstungsausgaben kann es keine Fortschritte bei der sozialen Gerechtigkeit geben. Von daher tritt Jackson für ein allgemeines Sicherheitskonzept ein, das einen Abbau amerikanischer Truppen in Europa vorsieht. Im Gegensatz zu Kristols „Schock–Therapie“ würde Jackson einen Truppenabbau der Amerikaner jedoch benutzen, um auf parallele Schritte von sowjetischer Seite hinzuwirken und so die militärische Situation mit der politischen Realität in Einklang zu bringen. Vor vier Jahren stand Jackson mit seinem Aufruf zu Truppenreduzierungen in der Demokratischen Partei ganz allein da, dieses Jahr aber hat jeder demokatische Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur die Europäer aufgerufen, einen größeren Anteil an den NATO–Lasten zu übernehmen. Für die NATO setzen sich im wesentlichen die liberalen Atlantiker ein, eine Elite, für die die Allianz der höchste Ausdruck des amerikanischen Internationalismus ist und das - seit nunmehr 30 Jahren - sicherste Einsatzgebiet für amerikanische Streitkräfte, mit Bündnispartnern, die globalen Abenteuern die warnende Stimme der Vernunft entgegensetzen. Doch angesichts der amerikanischen Wirtschaftskrise und der Abrüstungsinitiativen von Generalsekretär Gorbatschow ist selbst die Position der Atlantiker ins Wanken geraten. Senator Claiborne Pell, ein Atlantiker par excellence und derzeit Vorsitzender des Senatsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, hat 1982 eingehende Hearings zur NATO–Frage durchgeführt. Dabei ergab sich für ihn, daß Europa auch ohne amerikanische Truppen „in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen“, und daß das oft beschworene Ungleichgewicht im konventionellen Bereich entweder eine reine Schimäre ist oder aber von den Europäern selbst behoben werden kann. Claiborne Pell wie Patricia Schroeder planen für das nächste Jahr neue Hearings zur NATO–Frage. Sympathien für konventionelle Abrüstung Gorbatschows Vorschläge zu erheblichen Verminderungen der Truppenstärke, zur Beseitigung jenes bedeutsamen Ungleichgewichts bei den wichtigsten Waffen sowie zu einer Umgestaltung von Streitkräften und Doktrin, um zu einer defensiveren Haltung zu gelangen, finden in dieser Situation ein offenes Ohr. Anfang Oktober veröffentlichte die New York Times auf dem Titelblatt einen von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Außenpolitik unterzeichneten Bericht, der neue Initiativen zu Verhandlungen über konventionelle Waffen forderte. In den Kreisen der Abrüstungsbefürworter und der Friedensbewegung kursieren plötzlich zahllose Analysen über das Gleichgewicht im konventionellen Bereich, über eine „defensive Verteidigung“, eine alternative Verteidigung und dergleichen. Der erfolgreiche Abschluß eines INF–Abkommens wird - so meinen viele - direkt zu Gesprächen über den Abbau konventioneller Waffen führen. Ein Abzug amerikanischer konventioneller Truppen aus Europa steht nicht unmittelbar bevor. Die Trägheit der Bürokratie, die Sicherheitslobby in den USA wie in Europa und die Tatsache, daß die Sowjets auf eine fortdauernde amerikanische Präsenz setzen, sind ein starkes Bollwerk gegen abrupte Veränderungen. Multilaterale Verhandlungen können, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, ebenso gut einen eigenständigen Rüstungsabbau verzögern wie bilaterale Rüstungsbegrenzungen herbeiführen. In dem Maße aber, wie der Politik der USA immer engere wirtschaftliche Grenzen gesetzt sind, werden sich die Stimmen mehren, die nach einer Kürzung der NATO– Ausgaben verlangen. Dieses Verlangen findet schon jetzt sehr viel mehr Unterstützung bei der Elite, als allgemein angenommen wird. Wenn die doppelte Null–Lösung 1987 einige Politiker in Europa aufgeschreckt hat, dann sollten sie sich auf konventionelle Rüstungsbegrenzungen in den 90er Jahren gefaßt machen. Teil 11
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