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400 Kronstädter im Gefängnis

■ Revoltierende Arbeiter in Bukarest im Knast Zuckerbrot und Peitsche in Kronstadt

Bukarest (taz) - Die Anrufe bei den ausländischen Journalisten in Bukarest klingen verzweifelt. Angehörige der verhafteten Arbeiter aus der siebenbürgischen Stadt Kronstadt (Brasov) fragen an, wie sie Verwandten und Freunden helfen können, die in die Gefängnisse von Bukarest gebracht wurden. Nach Informationen der taz aus der rumänischen Hauptstadt sind noch über 400 Arbeiter in Haft. Die sollen nach diesen Aussagen brutal zusammengeschlagen und gefoltert worden sein. Das Recht, einen Anwalt zu nehmen, wurde in nahezu allen Fällen verweigert. Unter den Festgenommenen sollen etwa die Hälfte der deutschsprachigen Minderheit angehören. Andere Informanten sprechen davon, daß während der Unruhen in Kronstadt vor zehn Tagen bis zu 2.000 Menschen festgenommen wurden. Augenzeugen berichten gegenüber der taz, die Unruhen hätten am Samstag, den 14. November ihren Ausgang genommen, als Arbeiter der Kronstädter Traktorenfabrik „Steagul Rosu“ von der Fabrikleitung aufgefordert wurden, über das Wochenende eine Extra–Schicht zu fahren. Und dies, obwohl sie seit zwei Monaten keinen Lohn mehr bekommen hatten. In dem Betrieb, in dem mehrheitlich Rumänen und nur vereinzelt Angehörige der deutschen und ungarischen Minderheit Siebenbürgens beschäftigt sind, kam es zu spontanen Sabotageangriffen auf Maschinentrakte. Fortsetzung auf Seite 6 Besänftigend versprachen daraufhin die Fabrikdirektoren, Anfang der kommenden Woche die ausstehenden Löhne auszuzahlen und entschuldigten sich, daß sie bisher keine Gehälter bezahlt hätten. Die Bukarester Zentralverwaltung habe wegen mangelnder Planerfüllung die Löhne zurückgehalten. Für Stunden herrschte wieder Ruhe bei „Steagul Rosu“. Doch in den frühen Morgenstunden des folgenden Sonntag, Wahltag für das Provinzparlament von Kronstadt, drangen etwa 700 Arbeiter in ein Wahllokal ein, zerstörten die Urnen und riefen: „Boykottiert die Scheinwahlen“, „Nieder mit Ceausescu“ und „Wir wollen Nahrung und keine Tyrannei“. Daraufhin setzte sich ein Demonstrationszug Richtung Stadtzentrum in Bewegung, dem sich immer mehr Menschen anschlossen. Je nach Quelle waren es zwischen 3.000 und 15.000 Demonstranten. Vor dem Parteibüro forderte die Menge, mit einem Parteibonzen zu sprechen. Als sich niemand zeigte, drangen die aufgebrachten Menschen gewaltsam in das Gebäude ein. Dort erschlugen sie einen Pförtner und einen wachehaltenden Polizisten. Zu ähnlichen Szenen kam es kurze Zeit später vor dem Rathaus der zweitgrößten rumänischen Stadt. Wieviele Polizisten bei dem Volksaufstand das Leben ließen, ist bisher unklar. Jedenfalls soll es auf Seiten der Demonstranten keine Toten gegeben haben. Die Sicherheitsorgane seien auf die spontanen Demonstrationen nicht vorbe reitet gewesen und hätten nur vereinzelt mit Tränengassalven reagiert. Kronstadt könne seit ein paar Tagen wieder betreten werden, hört man in Bukarest. Letzte Woche sei die Stadt von einem Panzerkordon umstellt gewesen und niemand konnte hinaus und hinein gelangen. Die Telefonverbindungen sind seit dem Wochenende ebenfalls wieder intakt und so war zu erfahren, bei „Steagut Rosu“ stünden weiterhin alle Maschinen still. Die Miliz sei eifrig damit beschäftigt, die Spuren der Krawalle zu beseitigen. Eingeschlagene Schaufensterscheiben von geplünderten Gechäften sind nahezu ersetzt und Ceausescu–feindliche Parolen übertüncht. Während die rumänischen Orte abends im Dunkeln liegen aufgrund der Stromabschaltungen, durch die Energie gespart werden soll, erfreut sich Kronstadt die ganze Nacht hindurch der vollen Beleuchtung. Viele kaputte Straßenlaternen sind in den letzten Tagen repariert worden, damit es über die Nacht nicht zu spontanen Plünderungen kommt. Außerdem werden die Regale der Geschäfte mit seltenen Gütern wie Zucker und Gemüse ausgestattet, um die Bevölkerung zu besänftigen. Es handelt sich nach Angaben von Beobachtern bei den Demonstrationen um die schwerwiegendsten seit 1947, denn der Protest ist „politischer“ geworden. Noch im Februar dieses Jahres war bei der Demonstration von etwa 5.000 Studenten in der Stadt Iasi im Nordosten des Landes lediglich die schlechte Versorgungslage kritisiert, jetzt aber ist die Politik von Parteichef Ceausescu direkt kritisiert worden.

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