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Wir sind kein Untergrundblatt

Berlin (taz) - Mit Neid blickte bisher so mancher DDR–Bürger auf den alternativen Blätterwald in der „Hauptstadt“. Mit den Umweltblättern, dem Grenzfall und zehn anderen Zeitungen sind Medien entstanden, die seit über einem Jahr mit einer Auflage von 600 bzw. 1000 Exemplaren die Anliegen der DDR–Umwelt– und Menschenrechtsbewegung in die (begrenzte) DDR–Öffentlichkeit tragen. „Wir sind kein Untergrundblatt“, widerspricht Carlo Jordan, einer der Macher der ersten Stunde, irgendwelchen konspirativen Hintergedanken bei seinen Umweltblättern. Das Info–Papier des Friedens– und Umweltkreises der Zionsgemeinde (in derem Gemeindehaus sich auch die Umweltbibliothek befindet) sei in den institutionellen Rahmen der Kirche eingebettet. Ganz im Sinne des Titels haben sich die Macher vorgenommen, „ökologische Aufklärungsarbeit“ zu leisten und wichtige Veranstaltungen mit Berichten und Hinweisen festzuhalten. Der verharmlosenden Darstellung von Umweltproblemen in den offiziellen DDR–Medien soll eine kriti sche Darstellung entgegengehalten werden. Im letzten Winter konnte so beispielsweise aufgedeckt werden, daß die Smog– Grenzwerte in der Hauptstadt um das Neunfache überschritten wurden. Aber auch Tips für das Reisen und den vorausgehenden Gang durch den Dschungel der Bürokratie oder Informationen über die Möglichkeiten, Auslagen für die Visagebühren vom Staat zurückzubekommen, wenn der Antragsteller dann doch nicht ins benachbarte sozialistische Ausland ausreisen darf, sind beachtete Themen des Blattes. Die in ehrenamtlicher Arbeit hergestellten Umweltblätter kosten im Prinzip nichts. Um aber wenigstens die Produktionskosten zu decken, gebe es „Spenden mit empfohlenem Richtwert“, berichtet Jordan, „etwa einen Groschen pro Seite“. Selbstverständlich ist, daß die Zeitung „basisdemokratisch“ erstellt ist und jeder einzelne Artikel ausführlich diskutiert wird, bevor er in dem aus hektografierten Seiten bestehenden Blatt erscheinen darf. Wirbel und Diskussionsstoff Wie die Umweltblätter erscheint auch der Grenzfall als hektografierte Seitensammlung einmal im Monat und stellt vor allem die Diskussion über Menschenrechtsthemen, allgemeinpolitische Fragen sowie Informationen über oppositionelle Gruppen und Strömungen in den anderen sozialistischen Ländern in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Mit ihrem „Brief an Gorbatschow“ zu dessen Besuch im Frühjahr dieses Jahres in Ost–Berlin haben die Herausgeber, die Initiative Frieden und Menschenrechte, für Wirbel und Diskussionsstoff nicht nur in der DDR– Szene gesorgt. Mit geschärftem Blick werden die Entwicklungen in der Sowjetunion und der Reformprozeß in den anderen Staaten des Blocks unter die Lupe genommen und der DDR–Realität entgegengehalten. Themen wie die Pfingstereignisse an der Mauer, die „unbesiegbaren Inschriften“ (Glasnost) an den Häuserwänden der Hauptstadt, Berufsverbote, das Friedensseminar in Warschau oder der Despotismus in Rumänien fordern zur Diskussion heraus. In der neuen Nummer sollte über den Neonazi–Überfall auf Szenekneipen und die Auseinandersetzung über den Besuch von CDU–Parlamentariern bei Pfarrer Eppelmann und anderen Vertretern der unabhängigen Friedensbewegung berichtet und diskutiert werden. Die Macher verstehen die Zeitung als ein Forum für einen „pluralistischen Diskussionsprozeß“. Dies scheint ihnen gelungen zu sein. Die Dokumentation des Briefes an Gorbatschow hat dann sofort auch Widerspruch in einem anderen Samisdadblatt, der Gegenstimme ausgelöst. Glasnost von unten Ob die alternativen Publikationen nun Umweltblätter, Grenzfall, Gegenstimmen, Friedrichsfelder Feuermelder (Friedensgruppe), Kopfsprung (Autonome), Morning Star oder Ariadne Fabrik (Kultur) heißen, in einem sind sich die Macher einig: Auf Glasnost von oben wollen sie nicht warten. Und da in der Umweltbibliothek auch noch die tägliche taz den wöchentlichen Spiegel ergänzt, sind viele Ost– Berliner auch über Entwicklungen und Diskussionen informiert, die weder in den offiziellen Ostmedien noch im Westfernsehen ihren Platz gefunden haben. Daß sogar die internen Diskussionen der taz ihren Widerhall in der Ost– Berliner Szene haben, ist überraschend. Zu wünschen wäre für viele Ost–Berliner, daß auch ihre Diskussion im Westen mehr Nachhall hätte. Bisher hatte der Staat in das Gefüge der DDR–Gegenöffentlichkeit nur zurückhaltend eingegriffen - die Bespitzelung, das abgehörte Telefon, die Vorladungen gehören zum Alltag „drüben“ und sind gewohnte Lebensumstände. „Da die meisten von uns unter DDR–Arrest stehen und nicht einmal nach Polen oder in die CSSR reisen dürfen, müssen wir uns notgedrungen als Heimatforscher betätigen“. Karla Trux

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