Frankreichs Jugend bewegt sich weiter

■ Schüler und Studenten gehen gegen den Rassismus auf die Straße / Aus Paris Georg Blume

Ein Jahr ist es her, da wehte mit den Tränengasschwaden auch ein Hauch vom legendären Mai 68 durchs Pariser Quartier Latin. Die lange tot geglaubte französische Studentenbewegung war über Nacht auferstanden, und viele frankophile Grüne bekamen feuchte Augen bei dem Gedanken, daß nun - endlich! - auch in Frankreich eine breite soziale Bewegung entstanden war. Was ist aus den Studenten geworden? Wieso hat man von ihnen nichts mehr gehört? Hat Jean Baudrillard recht, der in der Revolte des letzten Hrbstes ein Beispiel für die Sprach– und Folgenlosigkeit der Gegenkultur sieht? Wie um ihn eines Besseren zu belehren, demonstrierten gestern ca. 100.000 gegen den Rassismus. David Assouline, einer der Führer der Studentenbewegung, sieht eine Fortsetzung der Revolte in der Präsidentschaftskampagne für den Linksalternativen und KPF– Dissidenten Juquin. Die Kraft der Bewegung ist für ihn noch nicht ausgeschöpft.

Die Bastille ist besetzt. Die französische Jugend ist wieder da. An diesem Sonntag in Paris demonstrieren Schüler und Studenten gegen den Rassismus. Es sind dieselben, die erst vor einem Jahr der französischen Regierung das Fürchten lehrten, die bewirkten, daß die Weltpresse - wie lange zuvor nicht mehr geschehen - im Spätherbst 86 geschlossen auf Paris blickte. Paris, das sonst nur noch Provinzpolitik bietet, erlebte eine Revolte, und man erinnerte sich kurzfristig, daß Pariser Revolten in der Geschichte oftmals Signale setzten. Doch von dieser „Emeute“, die im vergangenen Herbst Millionen Franzosen gegen die rechtsliberale Regierungspolitik auf die Beine brachte, hörte man später nur noch wenig. Es schien, als sei der Protest wie ein Luftballon zerplatzt. An diesem Sonntag nachmittag sind es zwischen 100.000 und 150.000 Demonstranten nach den ersten Angaben der Veranstalter. Ein Fest ist es nicht. Die relative Stille der Demonstration verstärkt die Vorahnung, daß es sich auch um einen Erinnerungsmarsch handelt - Erinnerung für viele an die Erfolge vor einem Jahr, die so leicht nicht zu wiederholen sind. Doch wie nun schon gewohnt geben Schüler und Studenten ein kunterbuntes Bild ab. Viele sind aus der Provinz gekommen. Viele sind noch sehr jung. „Wir sind alle Immigrantenkinder“ heißt die populärste Parole. An der Spitze geht fast die gesamte „Nationale Koor dination“ der Studentenbewegung aus dem letzten Jahr. SOS–Racisme, das einst den Sticker „Rühr meinen Kumpel nicht an“ schuf, und die sozialistische Studentenorganisation UNEF–ID haben die Demonstration organisiert. „Wir wehren uns heute wie vor einem Jahr gegen die Ausgrenzung des anderen“, sagt Philippe Darriulat, Präsident der UNEF–ID. „Vor einem Jahr ging es um die Ausgrenzung, die die Regierung mit neuen Auswahlsystemen an der Universität einführen wollte. Heute kämpfen wir gegen die Ausgrenzung durch den Rassismus.“ Will das heißen, daß UNEF–ID und SOS–Racisme heute dort weitermachen können, wo die Studentenbewegung im letzten Jahr begonnen hat? Läßt sich für die Studenten der Sprung von konkreten universitären Forderungen zum prinzipiellen Kampf gegen den Rassismus bruchlos vollziehen? Und warum ist es dann bisher, seit dem Krach im Dezember, so still gewesen in Frankreich? Philippe Darriulat ist Funktionär. Alain Guillemoles nur einfacher Student. Alain erlebte die Revolte im letzten Jahr mit Begeisterung. Als Mitglied im studentischen Pressekomitee an der Sorbonne war er der beste Informant der taz. „Wir wissen, was wir wollen, auch wenn niemand von uns je Politik gemacht hat“, sagte Alain vor einem Jahr und schrieb in sein Tagebuch: „Das erste Mal bin ich glücklich, zu meiner Zeit zu leben.“Doch Alains Glück währte kurz. „Mir war nicht klar, daß wir nur so weit wie unsere eigene Nasenspitze sahen“, sagt er heute und erklärt bitter: „Unsere Worte waren leer. Es war ein Fest, wir haben gezeigt, daß wir fähig sind, etwas zu machen, aber für den Rest war es Selbstbefriedigung. Das Bild, das wir uns über die Medien von der Bewegung machen konnten, war mehr als die Bewegung selbst.“ Alain weiß nicht, daß er mit seinen Selbstvorwürfen den Kern der wohl weitestgehenden Kritik trifft, die ein französischer Intellektueller an der Revolte der „neuen Generation“ übte. Der Soziologe und Medienwissenschaftler Jean Baudrillard nannte die Studentenbewegung ein Beispiel für die „sprachlose Gegenkultur unserer schlaffen Gesellschaft“. Baudrillard: „In der Werbung ist nichts jemals mehr negativ, alles ist positiv ... Im aktuelen Sozialgefüge ... ist nichts mehr negativ, alles wirbt für sich selbst, prophezeit sich selbst. Auch die Jugendlichen verstehen sehr gut zu sprechen, aber die wässerige, sprachlose, nachahmende Sprache der Werbespots.(...) Die Bewegung war also vielleicht gar kein Ereignis, sondern das Aufkommen einer Menschenmasse, die sich zeigen kann, ohne zu sprechen.“ Die soziale Revolte als Werbespot? Baudrillard wollte provozieren, da er der Jugend ihren zuvor gerade demonstrierten Willen zur politischen Auseinandersetzung absprach, ihr eine fehlende „Machtphantasie“ vorwarf, und die Geschehnisse damit lückenlos in seine Vorstellungen vom Ende der sozialen Auseinandersetzungen in der modernen Kommunikationsgesellschaft einpaßte. Antworten bekam Baudrillard nicht etwa aus der Pariser Intellektuellen–Nomenklatura, die sich derzeit - schlimmer denn je - bei schöngeistigen Überlegungen über das Verhältnis von Mode, Demokratie und Menschenrechte aufhält, anstatt die zurückliegenden sozialen Ereignisse zu analysieren. Antworten auf Baudrillard, der als einer der wenigen auf seine Art die Studentenbewegung ernst nahm, suchen vielmehr die ehemaligen Akteure, die Studenten selbst. David Assouline, charismatischer Kopf der Revolte, ist jemand, der nicht aufgibt. Er erinnert an das Wesentliche: daß die Bewegung mit ihren Grundwerten, ihren Streikformen, der von ihr praktizierten direkten Demokratie nur alte Prinzipien der Arbeiterbewegung wiederaufgriff, daß ihr Elan aber keine automatische politische Umsetzung finden konnte, weil ihr schlichtweg die Möglichkeit dazu in den verkrusteten, zentralisierten politischen Strukturen Frankreichs fehlte. Konsequenterweise setzt David nun auf die Präsidentschaftskampagne von Pierre Juquin, dem Kandidaten der französischen Linksalternativen und KPF–Dissidenten, um seine Genossen erneut zu mobilisieren. Bisher waren die Hörsäle rappelvoll, wenn David gemeinsam mit Juquin in einer Uni auftrat. Christine, Mitglied der Nationalen Koordination der Studentenbewegung im letzten Jahr, erklärt die Situation so: „Die Leute lassen sich nicht abnutzen. Sie geben ihre Energie, wenn es an der Zeit ist, vielleicht jetzt für Juquin. Aber sie verschwenden sie nicht, und deshalb war es bisher ruhig.“ An der Sorbonne hat Alain Guillemoles geholfen, ein Unterstützungskomitee für Juquin aufzubauen. Allerdings bleibt er skeptisch: „Hier engagieren sich nur die, die schon lange politisch aktiv sind.“ Philippe Darriulat von der UNEF–ID hat dafür eine Erklärung: „Man unterschätzt die Nachwirkungen vom Dezember 86, weil man entsprechend der Entwicklung nach dem Mai68 eine Radikalisierung der Bewegung innerhalb der politischen Parteien erwartete.“ Philippe sieht den großen Unterschied darin, daß die „neue Generation“ auf eine zurückhaltend– skeptische, aber deswegen nicht weniger aufmerksame und kritische Art weiterlebt. Mit einem Blick auf die Bastille an diesem Sonntag macht das Schlagwort der „neuen Generation“ wieder Sinn. Sie sind es in der Tat, diese Schüler und Studenten in allen Hautfarben und in jeder Mode, die man erst individualistisch und strebsam nannte und denen man - später, nach der Revolte - noch das Attribut „moralisch“ gab. Wer sie wirklich sind, was sie wollen, und welche soziale Kraft sie in sich tragen, weiß jedoch niemand. Gegen Rassismus auf die Straße zu gehen, lohnt sich in Frankreich allemal.