Eine Sternstunde für das Mittelmaß

■ Der südkoreanische Präsidentschaftskandidat Kim Young Sam ist der Liebling der Mütter, der Buchhalter und der Risikoscheuen

Aus Seoul Nina Boschmann

Die Nummer zwei kommt heute ganz groß raus. Patsch und patsch und noch einer und noch einer... wie am Fließband und mit affenartiger Geschwindigkeit klebt der billige Jacob, der eigentlich ein Wahlhelfer ist, die kleinen roten Sticker mit der weißen „2“ auf Mäntel, Haare, Taschen, und es scheint, als könne das Publikum gar nicht genug davon bekommen. Auch auf der Bühne ist eine riesenhafte 2 aufgebaut worden und Tausende von kleinen roten Wimpeln mit weißem Mondgesicht klären über das Subjekt der Begierde auf: Es handelt sich um Kim Young Sam, einen der beiden aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten der südkoreanischen Opposition für die in einer Woche stattfindenden Wahlen, die der Diktatur Chun Doo Hwan am 29. Juli nach wochenlangen Straßenkämpfen abgerungen wurden. Wir befinden uns auf dem Youido–Platz, einem städtebaulichen Alptraum auf einer dem Han–Fluß abgetrotzten Insel mitten in Seoul: Die von Hochhäusern, Banken, Konzernzentralen, glitzernden Bürofassaden, gesichtslosen Apartmentblocks und Schnellstraßen umgebene unendlich große Betonfläche soll über einer Million Menschen Platz bieten. Bei derartigen Größenordnungen versagen natürlich alle Schätzungen: Das Schäfchenzählen wird zur Glaubensfrage. Am Sonntag vor zehn Tagen, so haben die Medien uns glauben gemacht, haben sich hier anderthalb Millionen Menschen versammelt, um Kim Dae Jung, die andere Gallionsfigur der Opposition, zu sehen. Ergo müssen es bei Kim Young Sam mindestens doppelt so viele werden. Denn das Rennen um die Präsidentschaft wird knapp, und - so die Einschätzung von Meinunungsforschern und Presse - es wird in Seoul entschieden, der einzigen Großstadt, in der regionale Animositäten (und damit die Herkunft der Kandidaten) keine Rolle spielen. Der ewige Zweite 60 Prozent der Hauptstädter zählen sich zur Mittelklasse, und das ist die große Chance für Kim Young Sam, der ewigen Nummer zwei: Schon als kleiner Junge träumte der Fischersohn aus der südöstlichen Provinz Kyongsang davon, Präsident zu werden, doch seit er 1954 mit 26 Jahren zum jüngsten Abgeordneten gewählt wurde, wurde er immer wieder kurz vor dem Ziel ausgebootet. Da gab es jenen unseligen Tag, 1971, an dem Kim Young Sam von der damals KDP genannten Oppositionspartei als Kandidat aufgestellt werden sollte. In letzter Minute trat Kim Dae Jung gegen ihn an - und gewann das Mandat. Diktator Park Chung Hee allerdings trug den umstrittenen Sieg an den Urnen davon. 1980, nach Parks Ermordung, als Kim Young Sam das nächste Mal Frühlingsluft witterte, kam ihm der Putsch von Chun Doo Hwan zuvor. Und heute, da die Opposition sich endlich das Recht auf freie Präsidentschaftswahlen erstritten hat, mag Kim Dae Jung, die charismatische Symbolfigur aus dem Südwesten, nicht mehr zurückstecken. Sollen die Wahlen nicht ausgehen wie die von 1971 - Regierungskandidat General Roh Tae Woo gilt als durchaus ernstzunehmender Gegner - so gilt es, Kim Young Sam beizeiten als Vertreter der „kleinen Leute“ aufzubauen: jener Schichten, die die Repression nicht wollen, aber Veränderungen mindestens ebensosehr fürchten; jener auch, für die im südkoreanischen Wirtschaftswunder ein paar Happen abgefallen sind. Diese Strategie verfolgt Kim Young Sam konsequent und zumindest in Seoul mit beträchtlichem Erfolg. Begeisterung vom Tonband Sogar die Wetterfrösche sind dem Kandidaten offenbar wohlgesonnen. Zum ersten Mal seit Tagen sind an diesem Samstag die Temperaturen in die Nähe des Gefrierpunktes gestiegen, die sibirischen Winde haben ein Ruhepäuschen eingelegt, und die Sonne strahlt vom blauen, wenn auch versmogten Himmel. So haben denn Scharen von Büroangestellten, Geschäftsleuten und arrivierten Pärchen ihren Mittagsspaziergang in die Betonwüste von Youido verlegt. Neugierigen Blickes schlendern Sekretärinnen umher, die neueste Wintermode wird hocherhobenen Hauptes ausgeführt. Hunderte von kleinen Garküchen und Ausschankstellen für das Volksgetränk Makkoli haben am Rand des Platzes ihre Zelte aufgeschlagen. Trockenfisch– und Teeverkäuferinnen wittern ebenfalls ein gutes Geschäft mit den Frierenden. Darüber hinaus überlassen die Wahlkampfstrategen aber nichts dem Zufall. Schon gar nicht die Begeisterung. Wo das Publikum noch nicht so richtig in Politstimmung ist, werden Tonbandmitschnitte von deren Rallyes vorgespielt: „Kim Young Sam, Kim Young Sam“ und „nieder mit der Diktatur“ tönt es rhythmisch aus den Lautsprechern. Am nahen Fluß parken an die hundert Busse, die entsprechende Mengen verläßliche Fans aus Kims Heimatstadt Pusan hergebracht haben. Kein Grund zur Aufregung, die Regierung macht es genauso und zählt auch besser. Amerikanische Medien kommentierten jüngst, die Anhänger Kim Dae Jungs wirkten „im Vergleich zu den anderen noch am spontansten“. Während ganze Berge von Styroporkissen die Mittelklassehintern vor Blasenentzündung bewahren sollen, werden große Plakatwände mit Photos von den blutverschmierten Opfern des Kwangju–Aufstandes durch die Menge getragen: Kim Young Sam oder das Militär (das dieses Mas saker zu verantworten hatte), lautet die Botschaft. Dazwischen versuchen die Parteihonoratioren in Tweed und Nadelstreifen, den Wählern in spe das Handzeichen für ihren Kandidaten einzubläuen. Zur Auswahl stehen: „Daumen nach oben“ - für die einfachen Gemüter das „Victory“–Zeichen; schon besser, da zwei Finger involviert, aber leicht abgedroschen und - für die hoffnungslos Intellektuellen - ein Kreis aus Daumen und Zeigefinger plus drei abgespreizte Fingern: So sieht das koreanische Schriftzeichen für „Young Sam“ aus. Ein treuer Ehemann? Als die RednerInnen am frühen Nachmittag das Podium besteigen, ist der riesige Platz tatsächlich zu drei Vierteln voll, Tendenz steigend. Drei Millionen, sagt die Partei hinterher, maximal eine, meint das Auge der taz–Reporterin. Als erstes spricht die Rechtsanwältin Hong San Song. Nachdem sie kurz an den Foltertod des Studenten Park Chon Chol erinnert hat, bemüht sie sich, Kims ohnehin recht sauberes Image noch ein bißchen zu polieren. Hong Suk–Ja, die gerade frisch zur „Nummer zwei“ übergelaufene ehemalige Präsidentschaftskandidatin Nummer vier beschränkt sich bei ihrem Überraschungsauftritt auf simple Dinge: Kim Young Sam ist einfach der Präsident. Hong Suk–Jas eigene Kampagne hat ihren (primär pädagogischen) Zweck überdies längst erfüllt: Seit sie die Arena betreten hat, kommt in den Ansprachen der ausnahmslos männlichen Spitzenpolitiker das Wort Frau gelegentlich vor. Frauen, so heißt es, mögen Kim Young Sam. Die Mütter hätten gern so einen netten Jungen, an dem keiner Anstoß nimmt, und die Ehefrauen sehnen sich vermutlich nach einem, der wenigstens nach außen hin nicht das in Korea übliche abfällige Verhalten gegenüber dem weiblichen Geschlecht an den Tag legt. Der richtige Präsident Bleibt noch das Militär, der große unkalkulierbare Faktor in der koreanischen Politik. Auch hier hat Kim Young Sam Terrain gegenüber seinen Konkurrenten gewonnen. Während die Feindschaft der Streitkräfte gegenüber Kim Dae Jung kein Geheimnis ist (er wurde für den dem Kwangju–Massaker vorausgehenden Volksaufstand verantwortlich gemacht), haben sich in letzter Zeit mehrere hochrangige Generäle zu Kim Young Sam bekannt. Der bekannteste von ihnen ist Chung Sung Hwa, ehemaliger Armeechef und Kriegsrechtverwalter unter Chun Doo Hwans Vorgänger Park Chung Hee. Er erklärt an diesem Nachmittag, warum er gegen den Regierungskandidaten Roh Tae Woo ist. Der habe nämlich das Kwangju–Massaker zu verantworten und sei obendrein noch unter schmählicher Vernachlässigung seiner Verantwortlichkeiten mit seinen Truppen von der nordkoreanischen Grenze abgehauen, um den Militärputsch von Chun Doo Hwan zu unterstützen. Ein Meer von Fahnen und mittlerweile echten Begeisterungsrufen empfängt jetzt Kim Young Sam, als er nach zwei Stunden heiser und verschnupft ans Mikro tritt: „Chun und Roh sind beides keine echten Koreaner. Sie haben das Volk belogen und unterdrückt.“ Und die Sicherheit? Die haben wir noch immer nicht. Der Flugzeugabsturz von neulich läßt grüßen. Deshalb will Kim Young Sam auch die vorsichtige Annäherung an China und Nordkorea: „Ich bin der richtige Präsident.“ Ist das nicht ein bißchen wenig? Schließlich ist Kim Young Sam nicht gerade als Geistesblitz bekannt. Er hat zugegeben, daß drei unter seinem Namen veröffentlichte Bücher von anderen geschrieben wurden, und zur Wirtschaftspolitik hat er eigentlich keine rechte Meinung. „Ich mag ihn“, sagt mir ein Buchhalter und Beethovenfan aus der nahen Stadt Inchon. „Kim Dae Jung erscheint mir radikaler und ich mag einfach keine Radikalen. Wenn er gewählt wird, gibts Zoff, wenn Roh gewinnt, gibts auch Zoff. Radikale erinnern mich immer an die Nazis.“ Eine Sternstunde für das Mittelmaß.