piwik no script img

„Jetzt kämpfen wir wieder gegen die Diktatur“

■ Nach den Wahlen in Südkorea: Über 700 Fälle von Wahlbetrug gemeldet / „Bewegung für Freie Wahlen“ frustriert über Desinteresse am Betrug / Opposition will heute über weiteres Vorgehen entscheiden / Barrikadenbau am Rathaus von Koro

Aus Seoul Nina Boschmann

„Ehrlich gesagt, wir sind ziemlich frustriert. Nun haben wir hier seitenweise Material über die dreistesten Betrügereien zusammengetragen, aber kein Mensch interessiert sich dafür.“ Lim Kyung Ram von der evangelischen Industriemission in Seoul und zur Zeit Simultanübersetzerin im Hauptquartier der „Bewegung für freie Wahlen“ kann sich nur noch wundern. Nicht nur die immer noch weitgehend kontrollierte koreanische Presse, sondern auch die Nachrichtenagenturen haben an der Art, wie in Korea Präsidenten gewählt werden, offenbar wenig auszusetzen. Obschon die Bewegung mit ihren über hunderttausend Freiwilligen bis Donnerstag abend an die 800 große und kleine Betrügereien aufgedeckt und dokumentiert hat, ist der Urnengang vom Mittwoch von den Schreiberlingen einfach als „Business as usual“ abgehakt worden. Das Stadtzentrum von Seoul wirkt geschäftig und aufgeräumt wie immer, und selbst an den Unis sind eher weniger als mehr Wandzeitungen denn üblich auszumachen. Es ist, als hätte die Nation noch gar nicht begriffen, was man ihr da eingebrockt hat: Fünf Jahre Roh Tae Woo. Das heißt für die meisten, die in der Demokratiebewegung dieses Jahres aktiv waren: Weitere fünf Jahre Tränengas, willkürliche Verhaftungen, Erinnerungen an das Massaker von Kwangju in einem der fiesesten und subtilsten Überwachungsstaaten, die die Welt bislang hervorgebracht hat. „Natürlich“, geben die Aktivi sten von der Bewegung für faire Wahlen offen zu, „können wir nicht genau sagen, wieviele Stimmen uns gestohlen worden sind. Unsere Vorbereitungszeit war zu kurz, und hierzulande läuft der Betrug im großen und ganzen auch etwas subtiler ab, als etwa 1986 auf den Philippinen. Aber: Kleinvieh macht auch Mist. Wenn in jedem Wahllokal auch nur 60 Stimmen gefälscht oder gekauft werden - und das ist nach unseren Beobachtungen durchaus denkbar - dann macht das landesweit schon fast zwei Millionen Stimmen aus, eine wahlentscheidende Marge.“ Und so steht denn für die Bewegung ebenso wie für den oppositionellen Dachverband NCD und den großen Verlierer der Wahl, Kim Dae Jung, jetzt schon fest: „Dieses Ergebnis werden wir nicht akzeptieren.“ Am heutigen Freitag will die NCD zusammen mit allen interessierten Oppositionsparteien und unabhängigen Gruppen über das weitere Vorgehen beraten. Das Ziel ist die Bildung einer nationalen Front, um das Wahlergebnis anzufechten. Ob das auf der Straße oder im Gerichtssaal geschehen wird, steht zur Zeit noch in den Sternen. Kim Dae Jung zur taz: „Ich weiß es noch nicht, alles hängt vom Volk ab!“ Auf jeden Fall soll Konkurrent Kim Jung Sam auch eingeladen werden, denn - so die Parteivizevorsitzende Park Youmg Sook: „Jetzt kämpfen wir wieder gegen die Dikatur.“ Andernorts in Seoul haben die umworbenen Massen sich dagegen auf eigene Faust aufgemacht, um ihr Recht zu verteidigen. Tausende fanden sich gegen Abend des Arbeiter– und Industriebezirks Kuro ein, wo am Mittwoch früh mehrere präparierte Wahlurnen auf auf einem Lastwagen mit Lebensmitteln entdeckt wurden. Während draußen vor Lagerfeuern getanzt und gesungen wurde, glich der Sitz der Bezirksverwaltung selbst einer Festung: Studenten hatten das gesamte Gebäude mit Bergen von Pflastersteinen, zerbrochenen Flaschen und Barrikaden aller Art gegen eventuelle Eindringlinge gesichert, mit Holzscheiten und Eisenstangen bewaffnete Trupps aus der Bewegung schoben drinnen wie draußen Wache, um eine Entwendung der wertvollen Beutestücke zu verhindern. Im neuerrichteten „Planungszentrum“ - ehedem ein Regierungsbüro - wurden Flugblätter abgezogen und präparierte Wahlzettel vorgeführt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen