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Radikale Stimmung in Stammheim

In Stammheim begann gestern der Prozeß gegen vier Verteiler der Zeitschrift Radikal / Verwarnungen, Gelächter und eine Clowns-Nase / Reutlinger Richter als solidarischer Zeuge für Tübinger Buchhändler  ■ Aus Stammheim Dietrich Willier

Schallendes Gelächter in der Stammheimer Justizfestung, Händeklatschen. „Nehmen sie das Ding herunter“, fordert der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts einen der Angeklagten auf. Der zieht seinen „Talisman“ eine rote Clownsnase langsam vom Gesicht, und beklagt sich über den schwarzen Humor, die Vorladung zum Prozess ausgerechnet am Heiligabend vergangenes Jahr bekommen zu haben. „Ist es richtig“, will Richter Schmid wissen, „daß bei ihnen zuhause ein Chaos-Betrieb existiert?“ „Ich weiß jedenfalls, was Chaos ist“, so der Angeklagte. Bewacht und kontrolliert wie immer hatte ein Prozess begonnen, wie ihn Stammheim noch nicht erlebt hat. Ange klagt wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, sind drei Männer und eine Frau. Werbung für RAF, Revolutionäre Zellen und die Rote Zora, hätten allesamt betrieben, und die Bundesrepublik herabgewürdigt.

Bei drei der Angeklagten waren vor eineinhalb Jahren je 20, zehn, oder auch nur drei Exemplare der Berliner Zeitschrift Radikal gefunden worden. Der vierte Angeklagte, der Tübinger Buchhändler Günther Dwenger hatte die zehn Exemplare, die ihm zugeschickt worden waren, ungelesen weggeworfen. Bloßes Wegwerfen, sinniert da Richter Schmid, könne man sicher nicht bestrafen. „Ist mir eh ein Rätsel, wie sie Richter werden konnten“, meint der Buchhändler. Bakunin ja, über Staatlichkeit und Anarchie, das würde er auch dem Richter verkaufen, nicht aber die „Radikal“.

Die 100 Prozeßbesucher klatschen Beifall, Richter Schmid mahnt und droht mit Ordnungsstrafen: Man habe ja Verständnis für berechtigtes Lachen – aber nicht zu laut. Der Buchhändler zitiert aus dem Verhaltenskodex für Staatsanwälte; Ordnung, Fleiß und Diensteifer zum Wohle der Republik. Wieder Applaus und Händeklatschen. Der Buchhändler, der erst zum vergangenen Jahresende wegen fehlender Umsätze seinen Laden geschlossen hat, und jetzt als „Schankwirt“ auf der schwäbischen Alb arbeitet, überlegt, ob er unter solchen Umständen nicht doch wieder Bücher verkaufen soll.

Gerade werden die ersten Zeugen vernommen, da knallt die Tür des Verhandlungssaals.“Vorführen“, befiehlt der Richter! „Haben sie absichtlich geknallt?“ Der junge Mann schweigt. „Ordnungsstrafe“, verfügt Richter Schmid – die Besucher sind aufgestanden, lautstarker Protest. Die Ordnungstrafe wird wieder aufgehoben.

Dann erscheint ein Zeuge der Verteidigung, Wolfgang Dobel ist Richter am Reutlinger Sozialgericht. Seit 17 Jahren ist er Kunde des Buchhändlers, man habe viel miteinander diskutiert, über politischen Anarchismus, über die RAF, und was die Leute dazu brachte zu werden was sie wurden. Einig, so der Richter als Zeuge zu seinem Kollegen, sei man gewesen über die menschenverachtende Einstellung und über die Liquidierung des US-Soldaten Pimental: „Das war für uns nicht nachvollziehbar, obwohl wir die Meinung teilten, daß durchaus nicht alle bedeutenden Persönlichkeiten dieser Republik mögenswert sind“. Er, der Richter als Zeuge hätte auch immer gerne mal die Radikal gelesen, und nicht nur über sie – schließlich habe er zeitgeschichtliche Interessen.

In der vollbesetzten Stammheimer Justizfestung ist es still geworden, eine gewisse Betroffenheit ist sogar dem Gericht anzumerken, der Staatsanwalt reagiert gereizt. Die Verhandlung ist auf vier Tage angesetzt. Erstmals wird in Stammheim geredet, offen, direkt und von allen.

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