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Sowjetunion schafft sich Arbeitsmarkt an

Neues System der „Freisetzung, Umschulung und Arbeitsvermittlung“ / Bis zum Jahr 2000 müssen sich 15 bis 17 Millionen einen neuen Job suchen  ■ Aus Moskau Alice Meyer

Durch den wortreichen Erlaß des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, des Ministerrats der UdSSR und des Zentralrats der sowjetischen Gewerkschaften „über die Gewährleistung einer effektiven Beschäftigung der Bevölkerung, die Vervollkommnung des Systems der Arbeitsvermittlung und die Stärkung der sozialen Garantien für die Werktätigen“ – am 19. Januar in der Presse veröffentlicht –, brauchte sich niemand hindurchzuquälen. Denn in den Tagen darauf beeilten sich hohe Funktionäre des Arbeits- und Sozialwesens, dem Volk in Zeitungsinterviews die wesentlichen Neuerungen, die dieser Arbeitsmarkterlaß bringt, zu erläutern.

Die Generallinie: Arbeitsplatzgarantien gibt es nicht mehr, seitdem das neue „Gesetz über das staatliche Unternehmen“ am 1. Januar 1988 in Kraft trat. Die Arbeitsproduktivität soll gesteigert und ein gegebenes Arbeitsvolumen von einer geringeren Zahl von Werktätigen als früher erbracht werden. Die Prognose: In Industrie und Verwaltung wird die Zahl der Planstellen abgebaut, im Dienstleistungsbereich nimmt die Zahl der Beschäftigten dagegen zu.

Historiker: Letzte Arbeitslose 1930

Vor 60 Jahren, am Vorabend des ersten sowjetischen Fünfjahresplans, gab es in der UdSSR nach damaligen offiziellen Angaben der Arbeitsämter 1.365.000 Er werbslose. Zu Beginn des ersten Planjahrfünfts, 1929, sank diese Zahl auf 1.242.000. Am 1. Oktober 1930 soll die industrielle Reservearmee dann auf nurmehr 240.000 geschrumpft sein. Anfang 1931 war es dem Sowjetland nach Darstellung der offiziellen Geschichtsschreibung der UdSSR gelungen, „erstmals in der Menschheitsgeschichte die Arbeitslosigkeit als sozialökonomische Erscheinung zu liquidieren“.

Das Partei-Zentralorgan Prawda vom 21. Januar 1988 betonte, daß Erwerbslosigkeit als soziales Problem seitdem in der UdSSR auch nie wiedergekehrt sei.

Aber – so räumt das Parteiblatt ein – in der Redaktion gingen „in letzter Zeit“ Leserbriefe ein, aus denen eine neue Angst vorm Arbeitsplatzverlust und Erwerbslosigkeit spräche. Der Moskauer Bürger Sokolow schrieb: „Es sieht so aus, als würde sich eine längst vergessene Zeit wiederholen...“

Diese Befürchtungen kommen nicht von ungefähr. Der stellvertretende Vorsitzende des Büros für soziale Entwicklung beim Ministerrat der UdSSR, Prostjakow, räumte in einem Prawda-Interview ein, daß es in der Sowjetunion Stimmen und Kräfte gebe, die sich für Arbeitslosigkeit als „ökonomischen Hebel“ oder als „soziales Heilmittel“ aussprechen, da diese die Menschen zu mehr Produktivität motiviere und die Arbeitsdisziplin stärke.

Stein des Anstoßes sind die al lenthalben immer noch wuchernden administrativen Tätigkeiten. Der Verwaltungsapparat der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft umfaßt gegenwärtig rund 14 Millionen Beschäftigte, das sind zwölf Prozent aller Erwerbspersonen in der UdSSR. Von diesen arbeiten elf Millionen bei Unternehmen und Organisationen, die unter das neue Betriebsgesetz fallen. Dieses Gesetz verschafft dem Management verhältnismäßig weitreichende Befugnisse für die Lösung der „Kaderprobleme“ und für die Entlassung von Arbeitskräften, wenn es darum geht, das Unternehmen aus den roten Zahlen in die Gewinnzone zu führen. Der Gewinn – das ist jetzt nämlich die zentrale Erfolgskennziffer des Wirtschaftsunternehmens. Es verbleiben 2,5 Millio nen Erwerbspersonen jener „Leitungsorgane“, die nicht aus Mitteln der Wirtschaft, sondern aus dem Staatshaushalt finanziert werden. Dazu gehören vor allem die Beschäftigten der 800 Ministerien und Zentralbehörden auf Unions- und Republikebene.

Hier sehen die sowjetischen Arbeitsmarktplaner und –politiker die größten Freisetzungsreserven, denn „je weniger solcher Leute, desto kleiner der Strom von Instruktionen, Bescheinigungen, Rechenschaftsberichten usw.“, also der Produkte „ganz oder teilweise unsinniger Papierarbeit“.

Die Ministerialbürokratie hängt in der Luft, da mit dem 1. Janaur 1988 ein Großteil ihrer bisherigen Aufgaben und Zuständigkeiten an die Unternehmen übergegangen ist. Allein die Republik- Ministerien sollen 50 Prozent ihrer Planstellen verlieren. Mit Abstand „schwierigste“ Arbeitsmarktregion ist schon jetzt Moskau, Standort fast aller zentraler Ministerien und Ämter der Sowjetunion sowie ihrer größten Republik, der russischen Föderation.

...ab nach Sibirien?

Arbeit ist für die „Freigesetzten“ genug da, versichern die Spitzenfunktionäre. Es gebe sie oft schon im bisherigen Unternehmen selbst (z.B. führten immer mehr Maschinen- und Fahrzeugefabriken das „Mehrschicht-Regime“, die Schichtarbeit also, ein). Lohnende Betätigungsmöglichkeiten biete ferner der Dienstleistungssektor: Wer seinen Arbeitsplatz in Industrie oder Staatsbürokratie verloren habe, könne z.B. in einer Handwerkergenossenschaft mitarbeiten oder auch eine „individuelle Arbeitstätigkeit“ aufnehmen, d.h. privat für die eigene Rechnung schaffen.

In der Erschließungszone der über 3.000 Kilometer langen Baikal-Amur-Eisenbahnmagistrale (BAM) in Sibirien oder Fernost gebe es Beschäftigung für „mehrere Millionen“ Arbeitswillige. Moskau bietet jedoch gegenüber fast allen anderen Plätzen in der UdSSR klare Standortvorteile, und eine personelle Verstärkung der „Kader“ in der Provinz ist nur mit Zustimmung des in der Metropole „Freigesetzten“ möglich.

Arbeitslose erhalten ab sofort eine Abfindung (Überbrückungsgeld) in Höhe eines Monatslohns. Bisher waren es zwei Wochenlöhne. Zwei Monate vom Zeitpunkt der Kündigung an gerechnet – in vom Arbeitsamt befürworteten Ausnahmefällen drei – wird das letzte Arbeitsentgelt weitergezahlt. Bei Umschulungsmaßnahmen, die von den Arbeitsvermittlungszentren organisiert werden, hat der Arbeitsuchende ebenfalls Anspruch auf Unterstützung in Höhe des letzten Arbeitsentgelts. Im Falle des Wechsels auf einen schlechter bezahlten Arbeitsplatz werde das bisherige Einkommen aber „befristet“ weitergezahlt.

Im Laufe des Jahres 1988 entstehen überall im Sowjetstaat – auf Republik-, Bezirks-, Regions- und kommunaler Ebene – sogenannte Zentren und Büros für „Arbeitsvermittlung, Umschulung und berufliche Orientierung“ mit EDV-Technik, Datenverarbeitungsspezialisten, Soziologen und Psychologen.

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