: Arbeitslosengewerkschaft in Ungarn gegründet
Nicht mehr das Land von Eisen und Stahl / Bislang fast keine Arbeitslosenunterstützung / Soziale Leistungen an Arbeit gebunden ■ Von Farkas Piroschka
So viele Polizisten wie in Ozd habe er in Friedenszeiten noch nirgendwo gesehen, erzählt ein Besucher, der unlängst aus der nordungarischen Industriestadt zurückgekehrt ist. In den fünfziger Jahren war das Industriezentrum von Ozd, Diosgyur und Miskolc der Stolz der sozialistischen Industrialisierung. Das Lenin-Hüttenwerk in Diosgyur und die Oszder Hüttenbetriebe übererfüllten jeden Plan und erhielten einen Rote- Fahne-Orden der Arbeit nach dem anderen. Heute ist Ozd wieder in den Schlagzeilen: Wegen der seit 1984 steil ansteigenden Kriminalität und der höchsten Arbeitslosigkeit im Lande.
Die ungarische Stahlindustrie, forciert ausgebaut in den fünfziger Jahren, als noch jeder sozialistische Staat ein Land von Eisen und Stahl werden sollte, dämmert heute ihrem Niedergang entgegen. Nicht nur in Rheinhausen, auch in Ozd macht sich der weltweite Stahlüberschuß bemerkbar. Zusätzlich verschärft wird die Krise dadurch, daß die ungarische Stahlindustrie offenbar nicht oder nur in geringem Maße in der Lage ist, sich den hohen Qualitätsanforderungen der modernen Technologien anzupassen. Die Subventionen, die die ungarische Stahlindustrie jährlich verpraßt, bilden mit den größten Posten bei der unaufhaltsam wachsenden Staatsverschuldung.
Gerade das immer bedrohlichere Ausmaß des Haushaltsdefizits hatte 1987 endlich zur Entscheidung geführt, die für dieses kleine Land ohnehin irrational großen Stahlkapazitäten abzubauen: Seitdem geht es Ozd an den Kragen. Ozd ist eine Stahlstadt, in der jeder zweite Beschäftigte im Hüttenwerk arbeitet. 1987 sind dort 3.400 Arbeitsplätze abgebaut worden, bei der Arbeitsvermittlung sind aber nur 600 arbeitslos gemeldet. Die Diskrepanz ist einfach zu erklären: Da es Arbeitslosengeld nur in Sonderfällen gibt (wenn der Betrieb die Entlassung von mehr als zehn Mitarbeitern bei den Behörden gemeldet hat) und die Vermittlung keine Stellen anzubieten hat, läßt man den – in Ungarn ohnehin als Schande geltenden – Gang zur Behörde lieber gleich sein. Das Lenin-Hüttenwerk hat jetzt angekündigt, bis 1990 5.000 Arbeitskräfte innerhalb des Betriebes „umzuorganisieren“, und 1.000 Mitarbeiter sollen auf jeden Fall entlassen werden.
Obwohl sie das keinen müden Pfennig kostet, vermieden es bisher die Betriebe wenn es nur ging, zehn Entlassungen auf einmal vorzunehmen, weil sie den dadurch erzeugten Solidarisierungseffekt fürchten. So berauben sie die Ent lassenen der einzigen Unterstützung, die ihnen im Falle der Arbeitslosigkeit zustehen würde. Es ist ein allgemeines Problem in den sozialistischen Staaten, daß es kaum persönliche Rechte auf Sozialleistungen gibt, stattdessen sind alle Formen der Unterstützung an einen Arbeitsplatz gebunden. Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes entfallen auch alle Zuschüsse, die aus sozialen Gründen gezahlt wurden, wie zum Beispiel das Kindergeld.
Damit nicht auch noch die Leistungen für die Arbeitslosen verlorengehen, die mit der Mitgliedschaft in der Staatsgewerkschaft verbunden sind (Familienbeihilfen, Urlaubszuschüsse, Kuraufenthalte usw.), hat nun die für Ozd zuständige regionale Gewerkschaftsverwaltung die Gründung einer Arbeitslosengewerkschaft angeregt. Auch wenn dieser Vorschlag nicht im geringsten auf kämpferische Vorsätze zurückzuführen ist, bedeutet er für die Arbeitslosen viel, denn damit haben sie wenigstens eine legale Grundlage erhalten, sich als Arbeitslose zu organisieren. So war das Interesse an der neuen Gewerkschaft sofort groß.
Die ungarische Wirtschaftszeitung Weltwirtschaftswoche befragte das erste Gewerkschaftsmitglied, Istvan Kovacs, nach seinen Motiven. Ihm wurde nach siebenjähriger Betriebszugehörigkeit von einem Tag auf den anderen gekündigt. Da er Frau und drei Kinder zu ernähren hat, wandte er sich unverzüglich an die zuständige Arbeitsvermittlung, die dem Hifsarbeiter ohne abgeschlossene Schulausbildung vier neue Hilfsarbeiterstellen angeboten hat. Als Kovacs dort ankam, waren sie aber alle schon vergeben. Seitdem schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, die Arbeitslosengewerkschaft konnte ihm auch nur eine einmalige Beihilfe von 2.400 Forint (nicht ganz 100 Mark) zahlen.
Es ist erfreulich zu hören, daß der Sekretär der lokalen Gewerkschaftsorganisation sich inzwischen der Schar derjenigen angeschlossen hat, die eine menschenwürdige Arbeitslosenunterstützung fordern. Sein Vorschlag ist, jedem eine Unterstützung zu gewähren, der nachweisen kann, daß er seit einem Monat bei der Vermittlung als arbeitslos gemeldet ist. Freilich ist ein Arbeitslosengeld dieser Art weiterhin nichts weiter als die Verteilung staatlicher Almosen. Die Zulassung einer selbständigen, auf Betriebszahlungen beruhenden Arbeitslosenversicherung kommt aber aus ideologischen Gründen nicht in Frage, wäre dies doch das Eingeständnis, daß Arbeitslosigkeit auch im Sozialismus keine Ausnahmeerscheinung mehr ist.
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